Unhappy in der Happy Kommune 2.0

Ein Szenario aus dem Jahr 2061 mit den Dimensionen soziales Miteinander und Mobilität

#Ebersberg, #Gemeinschaft & Gesellschaft, #Infrastruktur, #Mobilität, #Verkehr, #Wohnraum

Autor:innen: Julian, Kai, Thomas // Attraktor:innen: Dorothee

Heute sehnen wir uns noch nach einer Zukunft mit weniger Verkehr, wo man mit dem Rad fahren kann und weniger Flächen durch Straßen und Parkplätze versiegelt sind. Eine Zukunft, in der wir uns wieder auf die Gemeinschaft besinnen und nicht ständig durch die Welt jetten müssen. In der öffentliche Gelder nicht sinnlos in Straßenbau gesteckt werden. Hier können wir sehen, wie das in Zukunft aussehen könnte und dass auch das nicht die beste Lösung sein muss.

Seit 2 Stunden hängt Charlie mit ihren Freundinnen ab. Wie jeden Abend gibt es gegrilltes Gemüse und die drei müssen ihr Tagespensum für die Kommune leisten. Für Charlie stehen wahrscheinlich wieder Fahrradgeschichten von ihrem Bruder und ihrem Vater auf dem Programm und dazu der stickige, muffige Geruch nach verbrauchter Luft. Schnell wünscht sie sich, mal wieder ihren Opa Julian zu besuchen, der in der Natur außerhalb der Kommune wohnt. Zum Glück steht am Wochenende das Sonnwendfeuer an.

Das Sonnwendfeuer ist eines der wenigen Dinge, die sich seit den letzten 40 Jahren gehalten haben. Da trifft sie auch immer ihren Opa, mit dem sie dann genüsslich ein Bierchen trinkt und in den Geschichten von ihm und seinen Freunden schwelgt. Früher hatte jeder sein eigenes Haus, ist seinem Beruf nachgegangen, hat geschaut, dass er seinen persönlichen Wohlstand stetig erhöht und musste sich um nichts und niemanden Sorgen machen. Ganz nach dem Motto „wenn jeder an sich denkt, ist an jeden gedacht“. Das hat solange gut funktioniert, bis das Sozialsystem aufgrund der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich zusammengebrochen ist. Mit den immer mehr Reichen hatte sich eine Elite gebildet, die den Straßenverkehr massiv ausgebaut hat. Der frühere Bayerische Ministerpräsident Scheuer hat den Straßenausbau zur obersten Priorität gemacht. Deshalb wurden einige neue Straßen und Autobahnen gebaut, bestehende deutlich erweitert. So auch in Ebersberg. Die sechsspurig ausgebaute ST2080 und die alte B304 wurden zu Barrieren, die die Stadtteile komplett isoliert haben. Nachdem die frühere südliche Umgehungsstraße vor 20 Jahren wieder komplett im Sumpfgebiet versunken ist, musste der stetig zunehmende Schwerlastverkehr ja irgendwie durch Ebersberg und deshalb wurde das alles entsprechend bevorzugt ausgebaut. Das hat dazu geführt, dass immer weniger Beziehungen zwischen den Stadtteilen gelebt wurden und sich die Menschen auf die unmittelbare Nachbarschaft konzentriert haben. So haben sich in Ebersberg, wie auch in vielen weiteren Städten kleinere autarke Einheiten gebildet. Nachdem so viele Gelder in den Ausbau der Straßen geflossen sind, konnte der öffentliche Nahverkehr nicht mehr ausreichend finanziert werden, weshalb er auf ein Minimum aus selten fahrenden Buslinien reduziert wurde. Die Bahninfrastruktur konnte nicht mehr erhalten werden. Nachdem das Sozialsystem kollabiert ist, waren auch keine Mittel mehr für den Erhalt der enormen Straßeninfrastruktur vorhanden. So wurde diese sich selbst überlassen und nur noch einzelne Straßen zwischen Städten oder größeren Zentren werden unterhalten. Seither durchziehen aufgerissene Straßenzüge die Orte und Landschaften. Vielerorts nicht mehr als ein Schotterweg, auf dem man nicht vernünftig fahren kann. Freiwillige kümmern sich darum, dass zumindest die schlimmsten Schlaglöcher ausgebessert werden, damit man mit dem Rad fahren kann. Autos hat sowieso fast niemand, Kraftstoffe gibt es schon lange nicht mehr und der Strom reicht gerade so für den täglichen Bedarf. Einige Leute haben schon noch Autos, manche sogar noch einen alten Tank mit Kraftstoff. Aber wo will man denn hin, man kommt doch in den Kommunen gut zurecht.

Charlie spürte ihre Sehnsucht, aus der Begrenztheit der Kommune auszubrechen und die größere Welt kennenzulernen. „Da muss es doch noch mehr geben, als das, was ich bisher kenne… Warum eigentlich auf morgen warten? Warum nicht heute schon zum Opa in den Wald radln?“

Sie verabschiedet sich von ihren Freundinnen mit den Worten „ich muss mich um meinen Bruder Sascha kümmern“. Stattdessen schwingt sie sich auf ihr Radl und fährt ziellos in den Ebersberger Forst.

Nachdem sie fast eine Stunde kreuz und quer über Waldwege gefahren ist, kommt sie in ein Gebiet, in dem sie vorher noch nie gewesen ist. Das muss irgendwo Richtung Hohenlinden sein, da kommt sie normalerweise nicht hin. Im dichten Wald sieht sie ein altes Gebäude, das nicht mehr bewohnt zu sein scheint. Davor sind die Überreste eines Spielplatzes, um den sich scheinbar schon seit Jahren und Jahrzehnten niemand mehr gekümmert hat. Die Schaukel hängt nur noch an einem Seil, die Rutsche hat ein Rostloch. Das Kletternetz sieht auch nicht mehr vertrauenserweckend aus, die Seile sind teils abgerissen und durchgewetzt. Von der Wippe ist die eine Seite abgebrochen, Charlie setzt sich trotzdem auf den Sitz der verbliebenen Hälfte und ruht sich etwas aus. Wie sie da so hockt und den Blick in die Umgebung schweifen lässt, bemerkt sie, dass da ein paar ungewöhnliche Bäume wachsen, an einem kleinen, zugewucherten Weg, der von dem alten Haus wegführt. Dahinter ist noch ein zweites Haus und eine eingestürzte Scheune. Auf der anderen Seite vom Haus ist der Wald noch dichter. Genussvoll schließt sie die Augen. Hier riecht es so herrlich nach Wald! Nach feuchtem Moos, Laub, Nadeln. Irgendwo scheinen auch ein paar Tiere zu sein, man kann dezentes Grunzen und Wühlen hören. Und es duftet so wunderbar nach frischem Holz! Als würde sie direkt in einem Baum sitzen! So intensiv hat sie das noch nie wahrgenommen. Als sie die Augen öffnet und zum alten Haus blickt, bemerkt sie, dass dahinter etwas ist. Das ist ihr zuvor gar nicht aufgefallen. Also erhebt sie sich von ihrer maroden Wippe und geht in Richtung Haus. Als sie langsam herum geht, wird ihr klar, warum es so intensiv nach frischem Holz duftet: dort ist ein riesiger Berg frisch geschlagenes und gespaltenes Holz. Dann muss das die alte „Sauschütt“ sein, von der ihr Opa schon erzählt hat!

„He Du, was duast denn Du da! Magst Du a Holz klaun? Da gibt´s aber Ärger!“

Au weia! Charlie dreht sich um und rennt weg! Sie ist so erschrocken, dass ihr Herz bis zum Hals schlägt. In ein paar Sekunden ist sie über den Spielplatz und ins Dickicht. Dort versteckt sie sich hinter einem riesigen Wurzelballen von einem umgefallenen Baum und schnauft erst mal tief durch. Nach ein, zwei Minuten hat sie sich etwas beruhigt. Jetzt kann sie auch wieder klarer denken. Und da fragt sie sich, warum sie überhaupt weggelaufen ist. Sie hat weder irgendwas Verbotenes getan, noch hat der Typ, der gerufen hat wirklich böse ausgesehen. Zumindest, soweit sie das aus der Entfernung beurteilen konnte. Und soweit man das von jemandem sagen kann, der mit einer riesigen elektrischen Kettensäge auf einem Stapel Holz steht. Nach kurzem Abwägen beschließt sie, nochmal zum Haus zu gehen. Ihr Fahrrad steht ja auch noch am Spielplatz und das braucht sie schließlich, um zum Opa zu fahren. Wie sie sich dem Haus nähert, hört sie das Surren der Kettensäge, die scheinbar bestimmungsgemäß eingesetzt wird, um Holz zu schneiden. Gut, das muss nicht heißen, dass man sie nicht auch anders einsetzen kann, aber zumindest lauert ihr niemand auf. Hoffentlich. Am Haus angekommen sieht sie den Kerl, der sie so erschrocken hat. Er zerteilt einen großen Holzstamm. Als er Charlie bemerkt, legt er die Säge weg und lacht: „Hast Dein Holz vergessen oder was willst an meiner Hüttn?“. Charlie ist stinkwütend, dass er sie erst so erschrickt und sich dann auch noch über sie lustig macht. „Ach komm, was will ich denn mit Deinem Holz, ich hab daheim genug Holz vor der Hüttn!“. Nach kurzem, irritiertem Schweigen lachen beide los, bis sie Tränen in den Augen haben und sich vor lauter Lachen fast nicht mehr auf den Füßen halten können.

„Ich bin Charlie“, „und ich der Kurt“, stellen sie sich vor, nachdem sie sich wieder beruhigt haben.

Kurt ist 17 und erzählt, dass er mit seinem Opa, Kurt Senior, hier draußen wohnt und Holz macht, das in der Umgebung benötigt wird. Holz ist fast Universalstoff heutzutage. Baumaterial für Häuser, Rohstoff für Möbel, die Späne werden zu Pellets gepresst und verbrannt, um Strom und Wärme zu erzeugen, Holzfasern werden auch als ballaststoffreiches Nahrungsergänzungsmittel verwendet. Da die Leute aber hauptsächlich mit recyceltem Holz bauen, beschränkt sich der Bedarf an Frischholz auf Nahrungsmittel und den gelegentlichen Ersatz nicht mehr kreislauffähigen Holzes. Das ist insofern gut, als dass es Kurti und Kurt Senior erlaubt, den Wald in seiner ursprünglichen Form nachhaltig zu bewirtschaften. Sie fällen immer nur das, was wirklich benötigt wird und was auch wieder nachwachsen kann. Für jeden gefällten Baum pflanzen sie ein paar neue Setzlinge ein. Keine Fichten und Buchen mehr, wie vor 30 oder 40 Jahren, die kommen mit dem Klima nicht mehr zurecht. Aber verschiedene Zedern, Douglasien und Ahorn-Arten kommen mit dem Wetter bestens klar. Die meisten wachsen auch relativ schnell, sodass Kurt sie vielleicht sogar selbst wieder fällen kann.

Charlie mag es hier. An diesem verwunschenen Ort, mitten im Wald. Auf den ersten Blick etwas heruntergekommen, aber eigentlich echt nett. Im Haus war früher mal eine Wirtschaft. Aber irgendwann sind keine Leute mehr gekommen, weil die Straßen immer schlechter wurden. Und weil es hier kein Internet gibt, hat sich früher auch sonst nichts abgespielt. Jeder Versuch, die Wirtschaft wieder zu beleben ist damals gescheitert. Zum Glück für Kurt. Der kann hier nämlich jetzt wohnen und sich um den Wald und sein Holz kümmern. Und nebenbei kümmert er sich um seinen Opa, der mit seinen 70 Jahren auch nicht mehr so kann, wie früher. Im Gespräch erfährt Charlie auch, dass Kurt Senior und ihr Opa Julian sich von früher kennen, als sie noch in Ebersberg gewohnt haben. Das war, bevor die Straßen so massiv ausgebaut wurden und die Stadteile getrennt haben. Kurt hat damals am Eggerfeld gewohnt, ihr Opa Julian in Aßlkofen. Damals sind sie noch gemeinsam in die Schule in der Floßmannstraße gegangen, da konnten sie noch mit dem Radl hinfahren. Später ging das nicht mehr. Und als sich die Stadtteile so separiert und ihr eigenes Ding gemacht haben, sind sie beide in den Wald gezogen und haben sich um sich selbst gekümmert. Das Leben in diesen Kommunen war nicht mehr ihres. Die ganze Zeit so viele Leute um sich, jeder kümmert sich um jeden, alles gehört allen und alle haben sich lieb. Und ständig dieser süßliche Dampf in der Luft! Ist ja alles ganz schön, aber irgendwann geht Dir das echt ziemlich auf den Zeiger. Die meisten Leute kennen außerhalb von Ebersberg auch nichts, sind da noch nie wirklich raus gekommen. „Wir haben hier doch alles, warum sollten wir denn woanders hin?“. Senior sieht das anders. Er war früher viel unterwegs, auf der ganzen Welt, in fremden Ländern. Und er hat es geliebt. Andere Sprachen hören, das Essen, die Kulturen, das fehlt ihm schon wahnsinnig! Aber Reisen kann man sich heute nicht mehr leisten. Und die meisten wollen es auch nicht. Geht es ihnen in ihren Kommunen doch so gut. Charlie kommt ins Schwärmen, würde auch gerne mal die Welt sehen und andere Leute und Kulturen kennenlernen.

Aber auf jeden Fall beschließt sie, dass sie in Zukunft öfter mal in die Sauschütt radelt. Hier im Wald ist es einfach so schön, allein das ist schon einen Ausflug wert. Außerdem darf sie auch beim Holzmachen helfen. Das würde ihr schon viel mehr Spaß machen, als in der Radlwerkstatt von ihrem Papa zu arbeiten. Der Senior hat versprochen, dass er ihr gerne ein paar Geschichten aus anderen Ländern erzählt, wenn sie verspricht, dass sie ihren Opa auch mal mitbringt.

Ja, und dann ist da ja noch der Kurt…

#LoveStory