Tamiras neue Welt

Ein Szenario aus dem Jahr 2061 mit den Dimensionen Gemeinschaft und Umwelt

#Ebersberg, #Gemeinschaft & Gesellschaft, #Gleichberechtigung, #Klima & Umwelt

Autor:innen: Harald, Uta, Monika, Gunda // Attraktor:innen: Lena

In der offenen Gesellschaft von Ebersberg findet jeder seinen Platz

Es ist ein lauer Sommerabend in Ebersberg 2061. 
Tamira steht an einem der geöffneten Fenster in der kleinen Wohnung, in der sie mit ihren Eltern und den beiden kleineren Geschwistern wohnt. 
Die 14-Jährige lebt seit einem Jahr in Ebersberg. Eigentlich kommt sie aus einem kleinen Ort in Bardostan. Von dort musste sie mit ihrer Familie fliehen. 
In Momenten wie diesem denkt Tamira oft an ihr früheres Zuhause zurück und fragt sich, wo sie jetzt glücklicher wäre. In Bardostan, wo sie nie wussten, ob das Trinkwasser im Brunnen nicht verunreinigt war und ob es im Supermarkt überhaupt Lebensmittel zu kaufen gab. Wo Banden durch die Straßen zogen und die Menschen drangsalierten. Wo sie aber auch viele Freunde gehabt hatte, mit denen sie nachmittags spielte. Oft hatten sie einfach alle gemeinsam eine Blechdose durch die Straßen gekickt.  
Oder ist Ebersberg inzwischen doch schon ein wenig ihr Zuhause geworden? Die Stadt, in der die Menschen glücklich zu sein scheinen und sich gut verstehen. Die Stadt, in der man keine Angst vor Gewalt haben muss, aber eben auch die Stadt, wo sie, Tamira, nicht dazu gehört. 

Tamira steht mal wieder am Fenster und lauscht der Live-Musik und dem fröhlichen Stimmengewirr, das vom Marktplatz zu ihr herübergetragen wird. 
Sie kann nur erahnen, was gerade auf dem Marktplatz passiert und welchen Spaß die anderen dort haben, denn sie war noch nie dabei. Ihre Eltern wollen nicht, dass sie sich so spät noch herumtreibt. Dabei ist es gerade einmal 8 Uhr abends. 
Sie hat schon einmal versucht, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, warum sie nicht einmal alle gemeinsam auf den Marktplatz gehen, um sich das fröhliche Treiben anzuschauen. Aber ihr Vater hatte ihre Frage nur abgetan: „Was sollen wir da, wir gehören nicht dazu!“ 

Immer muss Tamira auf ihre Geschwister aufpassen, das nervt. Ja, sie liebt ihre Geschwister, aber sie würde gerne wieder etwas mit Gleichaltrigen unternehmen. Ihre Klassenkameraden treffen sich fast jeden Nachmittag irgendwo. Zum Ratschen in der Eisdiele am Marktplatz, beim Minigolf am Eggelburger See oder zum Baden am Klostersee. Manche spielen regelmäßig Fußball – oh wäre sie da gerne dabei! 
Dann würde sie ihre Klassenkameraden vielleicht auch besser kennenlernen und sich in der Pause nicht immer so ausgeschlossen fühlen, wenn diese von ihren Erlebnissen des letzten Tages erzählten. 
Über ihren eigenen Tag gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Er sieht immer gleich aus:  
Ihre Eltern erwarten, dass sie morgens schon früh um 6 Uhr aufsteht und zusammen mit ihrer Mutter das Frühstück für die Familie richtet. Um kurz vor 8 Uhr geht sie zur Schule. Mittags macht sie ihre Hausaufgaben und danach soll sie mit ihren Geschwistern auf den Spielplatz. Abends hilft sie ihrer Mutter beim Abendessen oder muss für ihren Vater Formulare ausfüllen oder Briefe übersetzen.  

Ihre Eltern sprechen nach einem Jahr in Ebersberg noch immer schlecht Deutsch, und auch sie spricht nicht wirklich gut. Dabei gäbe es so viele Angebote, um die Sprache richtig gut zu lernen - kostenlos. 
Aber ihre Eltern wollen nicht.  
So richtig versteht sie nicht, warum. Wahrscheinlich denken sie, wenn sie die Hilfe annehmen, würde man später etwas von ihnen zurückfordern. 

Aber gestern ist etwas Tolles passiert: 

Sie war wie immer mit ihren Geschwistern auf dem Spielplatz. Wie immer hatte sie alleine in einer Ecke gestanden und versucht, ein Buch zu lesen, um ihr eigenes Deutsch zu verbessern. 
Da hatte sich plötzlich eine ältere Dame aus der Gruppe der Eltern gelöst und war auf sie zugekommen. Tamira war ganz nervös geworden, hatte gedacht, dass sie oder ihre Geschwister etwas falsch gemacht hätten. 
Aber die ältere Dame hatte sie angelächelt und gesagt: „Hallo“. 
Dann hatte sie gefragt, ob Tamira in der Nachbarschaft wohne und warum sie denn so still hier in der Ecke stünde. Die Dame hatte noch viel geredet – aber Tamira hatte nicht alles verstanden. 
Eines hatte sie aber klar verstanden: „Ich habe eine Enkelin in deinem Alter, ihr könntet doch einmal etwas gemeinsam unternehmen. Sie kommt mich Morgen besuchen.“ 

Als Tamira am nächsten Nachmittag mit den Geschwistern auf den Spielplatz geht, ist sie sehr nervös. Ist die ältere Dame mit ihrer Enkelin wirklich da? Und was sollte sie mit dem Mädchen machen? Mit ihr reden? Worüber? Ihr Deutsch ist doch so schlecht… 

Am Spielplatz kommt die ältere Dame direkt auf Tamira zu und zieht sie am Arm zu einer Gruppe aus Jugendlichen. Da erhebt sich aus der Gruppe ein Mädchen, wie Tamira etwa 14 Jahre alt, mit langen hellbraunen Haaren und blauen Augen. Sie betrachtet Tamira kurz und lächelt sie dann freundlich an. 

Nach kurzem Schweigen fängt das Mädchen an zu reden, merkt aber schnell, dass Tamira nur wenig versteht.  
Sie nimmt Tamira an der Hand und sagt: „Komm“. Doch Tamira zögert.  
Sie kann hier nicht einfach weg, muss auf ihre Geschwister aufpassen. Tamira wird ein wenig ärgerlich. Was sich die Deutschen immer so einbilden, so einfach hat sie es nicht. Sie hat Aufgaben und Verpflichtungen, sie kann kein so sorgloses Leben führen wie das Mädchen, dessen Namen sie noch nicht einmal kennt. 

Die ältere Dame erkennt, was los ist, geht auf Tamira zu und spricht ganz langsam mit ihr, damit Tamira sie verstehen kann. 
Sie sagt, dass ihre Enkelin Tanja heißt und dass Tanja mit Tamira gerne zum Abenteuerspielplatz gehen würde. Tamira bräuchte sich keine Sorgen machen, die ältere Dame würde so lange auf Tamiras Geschwister aufpassen. 

Tamira denkt nach. Dann gibt sie sich einen Ruck, schaut die ältere Dame an und nickt, dreht sich um und läuft mit Tanja los.  

Es ist nicht weit bis zum Abenteuerspielplatz. Tamira staunt.  

Es gibt eine riesige Fläche mit vielen großen Bäumen und Büschen und viel Platz zum Toben.  

In einem Baum gibt es ein Baumhaus, dass man nur über eine Strickleiter erklimmen kann. 
Links daneben ist eine Art Tipi aus langen Ästen gebaut. Es gibt viele Kletterbäume, und ein kleiner Bach fließt durch eine Wiese. An seinem Ufer bauen Kinder Staudämme und hüpfen über Steine. Tamira sieht sofort, dass die Kinder diesen Ort lieben. Phantasievoll bauen sie hier Höhlen oder kleine Hütten, kriechen, graben, spielen in großen Gruppen gemeinsam Rollenspiele. 

Tamira bleibt überwältigt stehen – es sieht so toll aus. So etwas hatte sie in Bardostan nie gesehen. 

Tanja ist steht schon halb auf der Strickleiter zum Baumhaus und ruft Tamira zu, sie solle mitkommen. 

Oben zieht Tanja sie ins Baumhaus, wo schon eine Gruppe Mädchen sitzt. 
Tanja ruft: „Ruhe!“ Dann spricht sie mit den Mädchen und zeigt auf Tamira. 

Tamira ist aufgeregt. Sie schaut in die Runde und erkennt auch einige ihrer Klassenkameradinnen.  

Nach Tanjas Vorstellung rücken die Mädchen zusammen, um in ihrer Mitte Platz für Tamira zu machen. Zaghaft setzt Tamira sich hin.  
Die Mädchen fröhlich quatschenden Mädchen wollen viel von Tamira wissen. Woher sie kommt, warum sie noch nie da war und was sie sonst immer den ganzen Tag so macht. Tamira versucht, so gut es geht zu verstehen und zu antworten.  

Plötzlich steht eines der Mädchen auf und ruft. „Kommt, wir gehen zu den Jungs.“ 
Alle stehen auf, klettern aus dem Baumhaus und rennen über die Wiese. 
Da sieht Tamira plötzlich einige Jungs Fußball spielen. Sie rufen den Mädchen etwas zu.  
Tanja zieht Tamira hinterher und sagt: „Komm, wir spielen jetzt gegen die Jungs.“ 

Tamira steht wie angewurzelt auf dem Platz. Was passiert hier gerade? Sie könnte heulen, aber nicht aus Angst oder Einsamkeit. Nein, sie könnte heulen vor Glück! 

Da rollt der Ball auf sie zu und Tanja schreit: „Schieß!“ 
Aber Tamira schießt nicht. Sie erwacht aus ihrer Trance, nimmt den Ball an und läuft los. Ein Junge will ihr denn Ball abnehmen, aber sie trippelt ihn aus, lässt ihn einfach links liegen und läuft weiter. 
Sie läuft, wie früher durch die Straßen in Bardostan, nur jetzt auf einer Wiese und anstatt mit einer Belchdose mit einem Ball am Fuß. 

Alle sind begeistert, wie gut sie Fußball spielen kann. Sie können es gar nicht fassen, dass sie bisher immer nur mit einer Blechdose gespielt hat und reden auf sie ein, dass sie doch am Mittwoch zum Training kommen solle. Es gebe eine Mädchen-Mannschaft und der Trainer wäre bestimmt glücklich, wenn sie ins Team käme, so gut wie Tamira spielt. 

Es ist spät geworden und Tamira geht zurück zum Kinderspielplatz, um ihre Geschwister abzuholen. Was für ein toller Tag! Tamira ist überglücklich und würde gerne alles ihren Eltern erzählen. Aber das traut sie sich nicht. 

Am nächsten Tag in der Schule fragen ihre Klassenkameraden, ob Tamira nachmittags wieder etwas mit ihnen unternehmen würde. 
Tamira würde gerne, aber sagt schweren Herzens „Nein“ und stellt sich im Schulhof wieder etwas abseits. 
Sie merkt, dass die Mädchen tuscheln und sie verständnislos anschauen.  

Den ganzen Vormittag in der Schule ist Tamira unkonzentriert.  

Am Nachmittag geht sie mit ihren Geschwistern wieder auf den Spielplatz und stellt sich traurig in ihre Ecke. Alles ist wie immer. Sie ist allein. 

Doch dann kommt die ältere Dame auf sie zu. Nimmt sie an die Hand und gibt ihr zu verstehen, dass sie gehen soll. Sie solle sich keine Sorgen machen, sie würde wieder auf die Geschwister aufpassen. 

Tamira läuft los.  

Auf dem Abenteuerspielplatz stürmen die Mädchen sofort auf sie zu, nehmen sie in ihre Mitte und es ist alles wieder so wunderbar wie am Tag zuvor. 

So geht es jetzt jeden Tag. Tamira bringt ihre Geschwister auf den Spielplatz zu der älteren Dame und rennt dann zu ihren Freundinnen. Ja, inzwischen würde sie einige der Mädchen tatsächlich Freundinnen nennen. 

Eines Tages nimmt eines der Mädchen Tamira mit zum Fußball-Training. Der Trainer ist begeistert von Tamiras Ballgefühl und will sie unbedingt im Team haben. 

Als sie schon seit drei Wochen zum Training geht, meint ihr Trainer, Tamira solle das nächste Mal ihre Eltern mitbringen. Sie müssten einen Vertrag unterschreiben, damit sie bei einem Unfall versichert wäre. Sie schaut ihn ängstlich an. Da versichert ihr der Trainer, dass die Vereinskosten in ihrer Situation auf jeden Fall erlassen würden, da müsse sie sich keine Sorgen machen. 
Aber darum geht es Tamira ja gar nicht. 
Bis heute hat Tamira ihren Eltern nichts davon erzählt, dass sie Fußball spielt. Das würde ihr Vater nie erlauben. 

Traurig geht Tamira nach Hause und fasst einen Entschluss: Es muss Schluss sein mit den Heimlichkeiten, sie muss aufhören, ihre Eltern zu belügen.  

Am nächsten Nachmittag, als die ältere Dame Tamiras Geschwister übernehmen möchte, bleibt sie einfach wie angewurzelt am Spielplatz stehen.  
Nein, sie wird nicht weggehen, sie wird auf ihre Geschwister aufpassen, genauso, wie ihre Eltern das von ihr erwarten. 

Die nächsten Tage sind traurige Tage für Tamira. Aber die ältere Dame weicht am Spielplatz nicht von ihrer Seite. Erzählt ihr viel von Deutschland, von der Kultur, wie sie selbst aufgewachsen ist und davon, was ihr und ihrer Familie wichtig ist. 
Tamira versteht immer mehr, wie dieses Land und die Menschen ticken, was ihre Wünsche sind und ihre Ängste. Und nach einigen Tagen fängt Tamira an zu reden. 
Sie erzählt von sich, von ihrer Familie, von früher in Bardostan, wie sie dort gelebt haben. 
Und schließlich hat sie so viel Vertrauen zu der älteren Dame gefasst, dass sie ihr von ihren Ängsten erzählt und was ihre Eltern sagen würden, wenn sie erfahren würden, dass sie Fußball spielt. 

Die ältere Dame nickt, sagt lange nichts. Schaut Tamira nur an. 

Dann frag sie: „Vertraust du mir?“ 

„Ja“, sagt Tamira. 
„Dann lass mich dir helfen“. 
Tamira zögert, dann nickt sie. 

Einige Tage später kommt ihr Vater schweigend nach Hause. Er ist spät dran heute. Er setzt sich zum Abendessen an den Tisch, sagt lange nichts. 

Das ist ungewöhnlich. 

Plötzlich schaut er Tamira durchdringend an.  

Tamira fühlt sich unbehaglich. Was hat er, warum sagt er nichts? 

Dann fängt ihr Vater an zu reden, langsam, nachdenklich, ganz ruhig. 

Eine Dame hätte ihn eben auf der Straße angesprochen, deshalb sei er so spät. Sie wohne in der Nachbarschaft und sie kenne Tamira vom Spielplatz. 

Tamira zuckt zusammen.  

Ihr Vater spricht weiter und Tamira merkt, dass er mehr zu ihrer Mutter spricht als zu ihr. Er erzählt, dass die Dame sehr nett gewesen wäre, viel von Deutschland erzählt hätte, aber auch viel von Bardostan wusste. 
Sie hätten sich richtig gut unterhalten.  
Plötzlich steht er auf, klatscht in die Hände und sagt: „Am Wochenende gehen wir auf den Marktplatz! Wir schauen uns die Deutschen einmal ein wenig näher an, was meint ihr?“ 

Und tatsächlich gehen sie alle gemeinsam am Samstagabend auf den Marktplatz. Auf dem Weg dorthin fällt Tamira auf, wie wenige Autos auf den Straßen unterwegs sind und wie diese Rücksicht auf Fußgänger und Fahrradfahrer nehmen. Als sie in die Fußgängerzone einbiegen, gehen sie an vielen kleinen Geschäften vorbei. Es gibt mehrere nette Cafés, in denen sich kleinere Grüppchen angeregt miteinander unterhalten. Überall gibt es Bänke, wo einzelne Personen sitzen und rasten.  

Tamira und ihre Familie kommen an einem Pärchen vorbei, das auch in der Fußgängerzone unterwegs ist. Der Mann sitzt im Rollstuhl, er braucht aber keine Hilfe, denn alles ist barrierefrei gestaltet.  

Die Plätze und Straßen sind sauber und gepflegt. Immer wieder stehen zwischen den Häusern ein paar Bäume und Büsche, und die Vögel zwitschern. Tamira fällt auf, wie es hier duftet - nach Blüten, nach Honig, nach Frühling. Das ist kein Wunder, denkt sie sich, denn in ganz Ebersberg stehen ja an jeder Ecke Bäume, blühende Sträucher und Blumenwiesen standen. 

 
Am Marktplatz angekommen, kommt Tamira aus dem Staunen gar nicht mehr heraus: So einen Platz kennt sie aus ihrer Heimat nicht. Es scheint, als sitze ganz Ebersberg im Biergarten.  

Die Live-Band spielt wieder, die Kinder tanzen vor der Bühne und die Eltern sitzen an langen Tischen und unterhalten sich fröhlich. 

Tamira beobachtet das Treiben und sieht vor ihrem inneren Auge, wie das Leben hier in den Jahreszeiten vonstatten geht: Im Frühling verwandelt sich alles in eine einzige Blütenpracht, umschwirrt von Bienen und Hummeln, im Sommer ist es dank der alten Bäume angenehm kühl, und im Herbst leuchten die Blätter in allen Farben.  

Tamiras Vater will gerade schon wieder gehen, da kommt die ältere Dame lächelnd auf sie zu. Spricht zu Tamiras Vater und begrüßt ihre Mutter. Erst dann sieht sie zu Tamira und den Geschwistern und sagte „Hallo“. 
Sie hat also genau zugehört, denkt Tamira bewundernd. Denn sie hat ihr erzählt, wie wichtig es in Bardostan war, in welcher Reihenfolge man Familienmitglieder begrüßt, um ihnen Respekt zu erweisen. 

Die ältere Dame führt Tamira und ihre Familie zu einem Tisch. Da kommt ein Mädchen aus der Fußballmannschaft auf Tamira zu gerannt und ruft ganz aufgeregt, dass das Team Morgen ein Spiel hätten und Tamira unbedingt mitspielen müsse. 

Tamira wird rot im Gesicht und macht sich ganz klein. Sie hofft inständig, ihr Vater hätte das nicht gehört und schon gar nicht verstanden. Aber der blickt sie streng an, sagt nichts, packt sie am Arm und zieht sie nach Hause. 

Auch dort sagt er nichts, schickt sie nur ins Bett.  

In dieser Nacht weint Tamira viel.  

Am nächsten Morgen versucht sie, mit ihrem Vater zu sprechen, ihm zu erklären, wie wichtig die anderen Mädchen und Fußball für sie seien und dass sie auch richtig gut spielen könne. Dass es eine reine Mädchenmannschaft sei und er sich keine Sorgen machen müsse.  

Der Vater starrt sie nur an. 

Da wird sie wütend. Zum ersten Mal in ihrem Leben schreit sie ihren Vater an: „Was ist denn der Unterschied, ob ich in den Straßen von Bardostan eine Dose durch die Gegend kicke oder hier einen Ball auf einer Wiese?“ 

Ihr Vater schweigt. 

Da dreht sich Tamira um, rennt aus der Wohnung und knallt die Türe hinter sich zu. 

Sie rennt und rennt. Ziellos rennt sie durch die Straßen, bis sie schließlich auf dem Fußballplatz steht. 

Dort macht sich die Mädchenmannschaft gerade für ihr Spiel warm. Der Trainer kommt auf Tamira zu und sagt, sie wäre spät und solle sich schnell in der Kabine umziehen, ein Trikot läge für sie bereit. 

Tamira zieht sich um, geht auf den Platz, macht sich mit den anderen Mädchen warm und läuft schließlich zum Spiel auf den Platz. 

Nach dem Anpfiff spielt Tamira, als wäre es ihr letztes Spiel. Bis zur Halbzeit schießt sie zwei Tore. Ihre Mannschaft führt. Glücklich geht Tamira mit ihrer Mannschaft in die Kabine. 

Als sie zur zweiten Halbzeit wieder auf den Platz laufen will, hält jemand sie am Ärmel fest. Tamira drehte sich um und blickt direkt in das Gesicht ihres Vaters. 

Der lächelt und sagt: „Hier scheint alles etwas anders zu sein als bei uns zu Hause in Bardostan. Spiel weiter so, ich bin stolz auf dich“. 

In der zweiten Halbzeit schaut Tamira immer wieder zu ihrem Vater am Spielfeldrand. Neben ihm erkennt sie die ältere Dame. Die beiden jubeln ihr zu. Irgendwann sieht sie, wie ein anderer Mann auf ihren Vater zukommt, ihm auf die Schulter klopfte (das ist in Bardostan sehr unhöflich) und mit ihrem Vater spricht. Die beiden lachen. Tamira ist erstaunt - was war nur mit ihrem Vater los? 

Als ihr Vater und sie nach dem Spiel nach Hause gehen, redet ihr Vater unaufhörlich davon, wie stolz er auf sie ist und was die anderen Väter zu ihm gesagt hätten. 

In der Wohnung angekommen, meint er nur: „Heute Abend gehe ich auf den Marktplatz. Ich treffe mich dort mit einigen Männern im Biergarten“. 

Ein paar Tage später geht die ganze Familie gemeinsam aus. Ihr Vater nimmt sie, ihre Mutter und die Geschwister einfach mit. Nicht mit in den Biergarten, da geht er alleine hin. Aber sie gehen auf den Gemeindeplatz.  

Dort wartet die ältere Dame schon. Kaum ist Tamiras Familie angekommen, sausen Tamiras Geschwister zu ein paar Spielgefährten, die sie vom Spielplatz kennen. Die ältere Dame zieht  Tamiras Mutter zu einer Gruppe Frauen. Der Vater geht zu den Männern. Und Tamira? Die hat ihre neuen Freundinnen entdeckt und läuft zu ihnen. 

So geht das jetzt schon seit einigen Wochen. Das Deutsch von Tamira und ihrer Familie wird immer besser. 

Irgendwann beim Abendessen meint Tamiras Mutter, sie wolle im Gemeindehaus einen Deutschkurs belegen, damit sie schneller die Sprache lernen kann. Und dann wolle sie einen Kochkurs anbieten. Viele Frauen hätten Interesse für die bardostanische Küche gezeigt. 

Ihr Vater lacht. Doch dann verstummt er und sieht sie an. Sie meint es ernst. 

Tamiras Vater geht mit zum Deutschkurs. Nicht um auf ihre Mutter aufzupassen, nein, auch er will besser Deutsch lernen, um sich besser mit seinen neuen Freunden unterhalten zu können. 

Ja, sie haben jetzt Freunde in Deutschland. 

Wieder steht Tamira am geöffneten Fenster in der kleinen Wohnung, in der sie mit ihren Eltern und den beiden kleineren Geschwistern wohnt.  

Genau wie damals, vor einem Jahr. Vieles ist passiert seitdem. 
Tamira lauscht der Live-Musik und dem fröhlichen Stimmengewirr, das vom Marktplatz zu ihr herübergetragen wird. 

Sie wäre jetzt auch gerne dort, bei ihren Freunden, aber das geht nicht.  
Morgen hat sie ein wichtiges Fußballspiel, da muss sie ausgeschlafen sein. 

Tamira schließt das Fenster und geht ins Bett. Kurz bevor sie einschläft, denkt sie bei sich: „Wir haben ein neues Zuhause, wir gehören dazu.“