Lost

Ein Szenario aus dem Jahr 2061 mit den Dimensionen soziales Miteinander und Mobilität

#Ebersberg, #Gemeinschaft & Gesellschaft, #Infrastruktur, #Klima & Umwelt, #Mobilität, #Verkehr

Autor:innen: Julian, Kai, Thomas // Attraktor:innen: Dorothee

Eine Welt, in der jeder schnell und einfach dort hinkommt, wo er hin möchte. Mit einer hohen Verfügbarkeit unterschiedlichster Verkehrsmittel für jeden Bedarf. Aber wenn man sozial distanziert ist und keiner sich mit irgendwem treffen will, wo soll man dann hinfahren? In so einer Welt kommt man sich schnell verloren vor.

„Schauts hin, da hängt schon wieder die wuide Charlie an der Seilbahn!“

Na klar, jetzt wo wieder die ganze Weiherkette offen ist, wird die wieder aufm Wakeboard nach Egglburg rüberfahrn. Da wird sie wieder ihre tägliche Runde schwimmen und mit ihrem kleinen Bruder daheim das Abendessen machen, weil ihr Vater bestimmt wieder unterwegs ist.

Ebersberg 2061 im Juli, gemütliche 32 °C, 95% Luftfeuchtigkeit und damit genau wie gestern vorhergesagt. Es ist Freitagnachmittag, die Stadt ist leer, gefühlt haben die meisten wieder die Stadt verlassen, weil ihnen das vorhergesagte Wetter in Konstanz besser gefällt. Aber Charlie gefällts und ihr gefällt auch die Ruhe in der Stadt, die sich über die letzten Jahrzehnte generell eingestellt hat, weil immer weniger Menschen zum Plaudern zusammenstehen und sich treffen. Der Verkehr hat abgenommen, es gibt fast keine eigenen Autos mehr, da man jederzeit auf irgendein Verkehrsmittel zugreifen kann. Wie z.B. die Ebersberger Seilbahn, die kreuz und quer durch die Stadt vor sich hinschnurrt. Die Gondeln liefern den Alten ihre Lebensmittel oder bringen verletzte ins Krankenhaus oder Kranke zum Arzt oder helfen den verbliebenen Ebersbergern zum Bahnhof zu kommen, wo schon der ICE am Knotenpunkt München Ost Ost Richtung Brenner wartet. Für Ausflüge ins Umland gibt es autonome Taxis mit Elektroantrieb. Die reisenden Ebersberger können dabei die staatlichen, grünen Gemüse- und Obstplantagen bewundern, auf denen kleine Ernteroboter rumwuseln.

Den Älteren unter ihnen fällt immer wieder auf, wie sich die Natur über die letzten Jahrzehnte erholt hat und dafür nehmen sie gerne die tropischen Bedingungen in Kauf.

Charlie ist noch in Ebersberg geblieben, sie versucht wie fast jeden Abend nach dem Abendessen, beim Seiler Toni an seiner Seilbahn mitzuschrauben und damit ihrem großen Hobby nachzugehen.

Der staatliche zugewiesene Ausbildungsplatz zur Person mit Erziehungsauftrag entspricht ihren Fähigkeiten, die die Begabungstests ergeben haben. Und mit ihren vier Geschwistern hat sie gelernt soziale Kompetenz aufzubauen. Als jüngeres Geschwister erzieherische Kompetenz zu haben, erscheint erstmal nicht einleuchtend, aber wenn der Test das sagt, dann wird es schon so sein. Die Funktionsweise des Tests ist undurchschaubar, aber hat sich bewährt.

Als sie erfahren hat, wie begeistert ihr Nachbar von seiner Arbeit als Seilbahnmechanikermeister schwärmt, wollte sie das unbedingt auch ausprobieren. Seitdem sie das erste Mal heimlich den Toni auf einen Montagetermin begleitet hat, ist ihre Leidenschaft für eine Arbeit mit ihren Händen entbrannt.

Was für ein guter Zufall es war, dass sie vor einigen Monaten aus Langeweile auf dem Schlossplatz herumgesessen ist und einfach mal die vorbeigehenden Leute gefragt hat, was sie so den ganzen Tag machen. Das ganze Gebiet vom Rathaus bis zum Schlosskomplex wurde um 2040 komplett neu gestaltet. Damals war der Autoverkehr im Prinzip aus der Stadt verschwunden und viele der bisherigen Parkplätze wurden zu Parks umgebaut. Jetzt ist der Marienplatz eine wundervolle grüne Landschaft, in Terrassen angelegt, mit Wasserläufen und kleinen Teichen, großblättrigen Stauden und Palmen, durchzogen von Wegen, auf denen auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sich in ihren autonomen Kabinenrollern einfach fortbewegen können. Hier und da gibt es auch Bänke, die sogar großzügig überdacht sind, um vor Sonne oder Regen zu schützen. Das viele Grün macht es hier eigentlich angenehm kühl. Und trotzdem treffen sich nur wenige Leute und reden miteinander. Die meisten sind aus anderen Gebieten Europas zugezogen, viele sind auch nur wenige Wochen oder Monate hier. Die meisten Menschen gehen einer zugewiesenen Arbeit nach und ziehen dort hin, wo es eben notwendig ist. Das ist nicht immer da, wo man sein will, aber dafür hat man immerhin die Arbeit, die laut Test am besten zu einem passt. Leider ist es da schwierig Kontakte zu knüpfen oder Beziehungen aufzubauen oder sich in der Gemeinde einzubringen. Wofür auch, man ist ja ohnehin vermutlich bald wieder weg.

Aber Charlie ist anders. Charlie ist neugierig und will wissen, wer die anderen Menschen sind, wo sie wohnen und was sie arbeiten. Oft erntet sie unverständige Blicke oder gar Zorn für ihre wissensdurstigen Fragen. Aber nicht von Toni. Toni ist schon fast 70 und kennt Ebersberg auch noch, als es Vereine gab, Volksfeste und Restaurants mit Stammtischen und Schildern wie „do sitz´n de, de wo scho oiwei do sitz´n“.

Heute gibt es nur noch ein Restaurant in Ebersberg. Die „Alte Post“ hat ein paar Tische, wo sie Besucher bewirtet. Die anderen Ebersberger lassen sich ihr Essen nach Hause liefern und wollen überhaupt nicht mehr irgendwo hin. Warum auch. Da muss man immer mit Maske rumsitzen und geht das Risiko ein, sich mit irgendeinem Virus zu infizieren. Über die Jahre gab es viele Epidemien. Mal kurz und heftig, mal lang und weniger heftig. Aber immer sind sie lästig. Man hat sich daran gewöhnt, sagt Toni. Toni erzählt gerne, wie es früher war. Es war nicht alles besser, aber eben anders. Das mit den Restaurants heutzutage gefällt ihm nicht so gut, er hat sich früher gerne mit Freunden oder Kollegen auf eine Feierabendhalbe getroffen. Seitdem Alkohol als Droge eingestuft wurde und es nur noch alkoholfreies Bier gab, haben sich die Krankheitskosten deutlich reduziert. Der Spaß am Stammtisch auch. Deshalb genießt er es, sich mit Charlie zu unterhalten und ihr die Arbeit mit der Seilbahn zu erklären.

Toni hat die Seilbahn in Ebersberg damals mit gebaut. Bevor es die Seilbahn hier gab, hat er sich um viele Seilbahnen in den Alpen gekümmert. Die haben damals Leute auf den Berg gebracht, die dann mit Brettern an den Füßen wieder runter gefahren sind. Skifahrer nennt er die. Nachdem es seit über 20 Jahren keinen Schnee mehr gibt, werden in den Bergen auch nicht mehr so viele Seilbahnen betrieben. Da kam es gerade recht, dass in Ebersberg ein Mobilitätskonzept aufgezeigt hat, wie man das Volk von A nach B bringen kann, ohne dass jeder mit dem eigenen Auto unterwegs ist.

Ein eigenes Auto, wie albern. Warum sollte jemand ein eigenes Auto haben, das ist doch unglaublich teuer und steht die meiste Zeit nur rum. Wenn man irgendwo hin muss, kann man doch mit dem Rad fahren. Mit den Mikro-Fusions-Batterien ist die Fahrerei durch das Auf und Ab in Ebersberg auch nicht anstrengend. Und wenn es mal wieder regnet, fährt man eben mit der Seilbahn oder dem Zug. Damit kommt man nach Grafing, Aßling, Hohenlinden, Wasserburg. Der ICE ist in 45 Minuten am Brenner und in 2 Stunden an der Adria. Mit dem Flugtaxi kann man auch mal schnell irgendwo hin, wo kein Zuganschluss ist. Das ist teurer, kann man ausnahmsweise schon mal machen. Aber ein eigenes Auto? So ein Unsinn.

Seit sich Charlie mit Toni angefreundet hat, geht sie oft abends mit ihm zur Nachtschicht. Da reparieren sie dann kleinere Schäden an den Kabinen oder kontrollieren die Maschinenhallen und die zahlreichen Einstiegstellen in Ebersberg. Zum Glück ist alles gut vernetzt und Ausfälle werden vermieden, indem sie mittels künstlicher Intelligenz vorhergesagt und vor Eintritt behoben werden können. Deshalb ist Toni´s Job eigentlich recht entspannt und er hat viel Zeit zum Erzählen. Und sie haben viel Zeit, „Spezialumbauten“ durchzuführen. So haben sie an ein paar Kabinen eine Halterung befestigt, wo Charlie ihr Schleppseil befestigen und sich mit ihrem Wakeboard über die Weiherkette ziehen lassen kann.

Da es in den letzten Jahrzehnten immer mehr Starkregen gegeben hat, wurde das komplette Tal von Egglburg über den Klostersee, bis runter zur Kumpfmühle immer wieder überflutet. Nachdem das mehrmals passiert ist, wurde die frühere Eberhardstraße angehoben und zu einem Staudamm ausgebaut. Seitdem kann man fast ebenerdig vom Marktplatz zum Waldmuseum an der Ludwigshöhe fahren. Das hat den großen Vorteil, dass die Weiherkette als Wasserrückhaltebecken genutzt wird und der Staudamm fast den kompletten Strom für die Region Ebersberg erzeugt. Aus diesem Grund wurden die geplanten Windräder im Forst doch nicht mehr gebaut, obwohl die Planung 2040 schon fast genehmigungsreif war.

Die zusätzlichen Auflagen vom früheren Bundeskanzler Söder haben Genehmigungsverfahren für Windkraftanlagen enorm komplex gemacht. Das hat die Energiewende ganz schön verzögert. Forschende im Bereich der Fusionstechnologie haben dafür im Gegenzug enorme Mittel zur Verfügung gestellt bekommen, um Alternativen zur Windkraft serienreif zu entwickeln. In kleineren Maßstäben funktioniert das auch schon recht gut, weshalb die Energieversorgung überwiegend dezentral organisiert ist. Batterien sind fast alle fusionsbasiert. Energie für die allgemeine Infrastruktur wird aber weiterhin durch regionale Solar-, Wasser- oder Windkraftwerke erzeugt.

Das Wakeboarden macht Charlie richtig Spaß. Die „Allgemeinen Richtlinien des Zusammenlebens“ verbieten es nicht explizit, sie verweisen nur darauf, dass jegliche Aktivität nur dann durchgeführt werden sollte, wenn es keiner anderen Lebensform zur Last fällt oder als störend empfunden werden kann. Naja, wen soll es denn stören, ist ja fast niemand unterwegs. Bei der Hitze geht kaum einer spazieren und weil sich niemand kennt und mit anderen anfreundet, trifft man sich auch nicht im Freien. Und die paar einzelnen Spaziergänger wird es schon nicht stören, die kennen sie ja schon.

Irgendwie ist es schade, dass sie die meiste Zeit allein verbringt, sie fühlt sich oft ziemlich verloren. Sie freut sich immer so auf die Arbeit mit Toni, da kann sie sich mit ihm unterhalten, ihn über die Vergangenheit ausfragen und ihm erzählen, was sie heutzutage alles im begabungsspezifischen Unterricht lernen. Ansonsten ist es eher ruhig in Ebersberg. Wenn man herumläuft, hört man fast nie jemanden reden. Die autonomen Fahrzeuge, die Seilbahn, die Fahrräder, das alles ist beinahe lautlos. Die wenigen, leisen Geräusche und Gespräche werden von den vielen Pflanzen regelrecht geschluckt. Nur die Glocken im Kirchturm läuten regelmäßig, die kann man dann in der ganzen Stadt hören. Die Glocken wecken gemischte Gefühle in ihr. Neben der Kirche ist nämlich auch „das Haus des gemeinschaftlichen Zusammenlebens“. Da könnte sie zukünftig arbeiten, als Person mit Erziehungsauftrag. Im begabungsspezifischen Unterricht wurde sie schon darauf vorbereitet, weiß theoretisch alles, was es zu wissen gibt. Und von ihrem jüngeren Bruder Sascha weiß sie auch, wie es da so abläuft. Der geht da nämlich jeden Tag hin. Nachdem ihr gemeinsamer Vater so viel unterwegs ist und ihre beiden Mütter in anderen Städten leben, bekommt Sascha im HGZ beigebracht, wie man mit anderen zusammenlebt und miteinander umgeht. Charlie hat das noch von ihrer Mutter gelernt, bevor die nach Köln an die Nordsee gezogen ist. Damals haben auch noch Charlies drei ältere Geschwister mit zwei ihrer Mütter in Ebersberg gewohnt, da war oft richtig was los!

Manchmal fragt sie sich, ob sie irgendwann auch mal Kinder haben wird. Toni hat ihr erzählt, dass man früher fast nur Kinder bekommen hat, wenn Mann und Frau zusammen waren und sich auch gemeinsam um die Kinder gekümmert haben. Heute muss das nicht mehr sein, da kümmert sich das HGZ darum, dass man die Verhaltensvorschläge kennt. Essen wird vorgekocht geliefert und kann nach Bedarf endgegart und verspeist werden. Gereinigt wird von staatlich ausgebildeten und speziell begabten Fachkräften. Da sind die Kinder bestens versorgt, was soll man sich da noch kümmern. Charlie macht es Spaß, Zeit mit ihrem Bruder zu verbringen. Er ist so ein bisschen, wie sie. Neugierig, lebendig, immer auf der Suche nach neuen Abenteuern. Eigentlich freut sie sich schon etwas darauf, mit Kindern zu arbeiten und ihnen die wichtigen Dinge des Zusammenlebens beizubringen. So hat sie wenigstens etwas Kontakt zu anderen Leuten. Und abends kann sie dann mit Toni an der Seilbahn arbeiten und seinen Erzählungen lauschen.

Vielleicht ist der Begabungstest doch nicht so verkehrt, wie sie immer dachte…