Harald: Lust auf Stau-Raum​

Ein Szenario aus dem Jahr 2036 mit den Dimensionen: Nachhaltigkeit - Flucht

#Rest der Welt, #Gemeinschaft & Gesellschaft, #Klima & Umwelt

Autor:innen: Gabi // Attraktor:innen: #3

Man flieht so, dass die Welt nicht kaputt gemacht wird, und auch nicht in Inaktivität ausartet. Alles, was man tut, erfüllt das oberste Ziel der Nachhaltigkeit. Flucht heißt hier, dass ich in das fliehe, was schön ist und dass ich das forciere. Keine Abkapselung des Einzelnen, sondern Gemeinschaftliches.

Ein Tag aus dem Leben von Harald, 48 Jahre, Versicherungsvertreter

Mittwoch, 17. Dezember 2036 in der Nähe von Frankfurt

Harald wacht auf, er hatte sauschlecht geschlafen. Mit einem Kuss weckt er Selina auf: „Die Aufsichtsbehörde hat mich gestern erwischt, mit SUV und der Einladung der AfN zu einer Besichtigungstour durch die Ausstellung "Alte Autowerkstätten in den USA". Abgesehen davon, dass mir eh nicht klar war, wie die das organisieren wollen, hat mir jetzt die AB auferlegt, ein Ein-Tages-Tagebuch zu führen, inklusive meiner Gedanken. Meiner ehrlichen Gedanken! Mann, echt, dass das gerade mir passieren musste. Aber lieber schreibe ich das jetzt, als dass ich die saftige Strafe bezahle. Am besten lasse ich dich morgen früh noch redigieren, was ich die wissen lassen kann und was besser nicht. Du weiß doch genau, was man darf und was nicht.“ Harald fängt an, das Formular auszufüllen: 7:30 Uhr..., „Oh Gott, ich muss nachher unbedingt noch die AfN informieren, sie müssen alles vernichten, was auf die Einladung hinweist. Sehr peinlich...“, schießt es ihm durch den Kopf.

Mittwoch, 17. Dezember 2036
07.30h #Aufstehen aus einem Bett, hergestellt aus recyceltem Material, Holz, Papier oder Plastik: Ich kann mich kaum bewegen, habe saumäßige Rückenschmerzen. Muss morgen nach einer neuen Matrazenauflage suchen.

bis 07:45h #Toilette: Ich denke an nichts. 
#Duschen (heutiges Zeitkontingent 3 Minuten): Die Olivenöl-Seife lässt sich schwer abduschen, deshalb bin ich etwas hektisch.
#Zähneputzen mit Bambuszahnbürste, Kohlezahnpasta: Erfrischungsgefühl ja, danach suboptimal. Vermerk im Smartphone, dass ich Kaugummis ordere.
#Waschen mit wiedergewonnenem Wasser: Iih, das riecht heute wieder eklig!
#Anziehen, die Klamotten von gestern, waren über Nacht im Lüfter gereinigt: Der Geruch ist OK, die Flecken stören. Ich find’s einfach uncool, mit Flecken auf dem Hemd rumzulaufen.

bis 08:15h #Frühstück mit Gemüsesaft, Bio-Brötchen, veganer Aufschnitt, vegane Leberwurst, Marmelade ist aus. Kanne Grüntee: OK, Bio-Brötchen sind heute wieder besonders zäh. Sehne mich nach Kaffee, aber der muss erst wieder genehmigt werden, da letzte Charge nicht nachhaltig war. Sch....

bis 09:25h #Umgraben Garten (gemäß Auflage 767 der AB): Habe ich immer wieder Spaß dran.

09:30h #Gespräch mit dem Nachbarn: Der Nachbar hat gesehen, dass ich Kunstdünger genommen, den brauche ich für meine Bienenweide®-Rose Fruity. Mannomann, der kann mich denunzieren. Ich muss unbedingt morgen neuen Naturdünger kaufen, auch wenn das Gemüse damit kleiner und hässlicher ausschauen wird.

09:45h #Fahrt ins Büro mit dem E-Bike: Dauert ja ewig! Alle schauen, ob man nicht eines der D-Bikes fährt, die mit Diesel angetrieben werden und um einiges schneller sind, sowohl im Anfahren als auch im Beschleunigen. Als ob mich das reizen würde!

10:00h #4 Anrufe von Kunden, die einen Schaden melden: Geht wieder zack-zack, macht Spaß.

13:00h #Remote-Überprüfung von Schäden; Einschätzungen der Versicherungssummen 
#6 Anrufe wegen Terminen mit Neukunden: Die haben heute alle Angst, sich zu versichern, weil es dann so aussehen könnte, als vertraue man den Selbstheilungskräften der Natur und Gesellschaft nicht – ich wende die Argumentationshilfen der Firma an, die aber nur bei 3 Leuten greifen, die andere haben Gegenargumente.

13:50h #Termin mit Chefin wegen nicht-nachhaltiger Pausengestaltung (bin gestern nicht mit in die Kantine): Werde einen Verbesserungsvorschlag für die Gestaltung der Mittagspause einreichen: Statt Essen mit allen in der Kantine, sollte auch Sport getrieben werden dürfen, einmal in der Woche sogar alleine.

14:00h #Mittagessen in der Kantine: Es sind zu viele Menschen, das Essen nicht kernig genug – wieder nur weich gekochtes Gemüse, Bowls und Suppen.

14:45h #Kurzer Spaziergang mit den Kollegen aus der 3. Etage, zweimal ums Firmengelände: Gespräche drehen sich vornehmlich um Freizeitaktivitäten, die einfach nur LAAAANGWEILIG sind: Mit den Kindern in den Wald, Wandern mit der Freundin auf den Brocken, Pilze gesammelt, alleine im Gras gelegen und den Vögeln gelauscht, mit den Eltern im Garten gearbeitet, mit Kollegen Müll gesammelt... eigentlich kann ich es nicht mehr hören. Macht wirklich niemand was Verbotenes? Etwas, das Spaß macht?

bis 16:00h #Meeting mit Kollegen-Feedback: Es kamen nur Details, die für den Umweltschutz verbessert werden können (wie so oft: Literzahl in der Toilette verringern). Ich wollte, ich wäre so mutig und würde mal sagen: weniger Denunziation, weniger Kontrolle, weniger Obsession und dafür mehr Erfindercourage, auch mehr Wut auf Missstände und mehr Förderung von Einzelinitiativen!

bis 16:30h #Sitzung mit dem Ausschuss für Nachwuchsförderung: Alles nur für Mädchen und Waschlappen, gefördert wird, wer sich anpasst.

bis 17:00h #Fahrt in den Garten: Wie bei der Hinfahrt: Nur nicht auffallen, nur nicht zu schnell oder ein bisschen riskant fahren!

bis 18:30h #Wieder Gartenarbeit: Unkraut gejätet, Rasen gemäht, Gemüse und Kräuter fürs Abendessen geerntet: OK.

bis 19:30h #Joggen mit dem Lauftreff: Ein paar Leute haben mich gesehen, ich habe lautstark gegrüßt, damit alle mitbekommen, dass ich da bin und meine Pflicht erfülle. Joggen ödet mich eigentlich an, aber das ist nun mal DIE Sportart, die MAN tut: Hält den Körper fit und gesund, so dass er der Sozialgemeinschaft keine Krankheitskosten verursacht, nicht umweltzerstörend, nah an der Natur, kann man prima mit vielen anderen machen, so dass man sich gegenseitig kontrollieren kann. Ach, wie sehne ich mich nach einem Einkaufsbummel in einer quirligen Fußgängerzone (allein das Wort scheint antiquiert), ein paar Tüten in den Händen mit kleinen Preziosen wie einem Paar Lederhandschuhe oder einer Bubble-Seife fürs Vollschaumbad.

bis 20:15h #Kurzes Waschen; Sportsachen in den Lüfter: Wie gerne würde ich jetzt duschen! Hab kein Kontingent.

bis 20:30h #Abendessen, Gemüsesuppe, Gespräch mit meiner Frau: Wie immer super, kochen kann die Claudia!

bis 22:00h #Fahrt zur Garage, am SUV geschraubt (Da der Nachbar im gemeinsamen Garten heute nicht da ist):  Flow! 
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Besuch von Marlon von der AfN und lange Diskussion über diese Gesellschaft: Es tut mir leid, ich find die AfN gut. Es MUSS eine Alternative für Nachhaltigkeit geben, wir können so nicht weiter machen, wir verblöden noch vor Langeweile, wir verweichlichen, wir bewegen uns nur noch in bestätigenden Gruppen, ohne Auseinandersetzung kein Fortschritt, wir beschneiden uns in unseren Individualitäten und werden so immer gleicher – und Gleichheit ist NICHT gut, sie kappt Genialität (nicht, dass ich genial bin, aber immerhin…). Habe Marlon gesagt, dass die AB die Einladung in die USA jetzt kennt, sie wird abgeblasen, ewig schad: Keine Tour in die Werkstätten von Hummer, Jeep, Chevy oder Chrysler. Das waren noch coole Autos! Mögen die Leute, die das wollen, doch E-Autos oder E-Bikes fahren, wir paar letzten Aufrechten machen das Klima auch nicht kaputter als es schon ist.

bis 23:00h #Nach Hause; mit Claudia noch geredet: Sie hat es tatsächlich geschafft, ein paar Bilderrahmen und Kerzenständer zu finden, die alle Auflagen erfüllen und trotzdem schön aussehen. Hat gleich ein paar Kerzen angemacht und wir haben einen Wein getrunken und frittiertes Gemüse geknabbert (oder besser knabbern wollen, es schmeckte einfach abscheulich, lag ziemlich sicher an unserem Naturdünger, der hat voll durchgeschlagen).

23:00h #Ins Bett, schlafen: Ärger wegen der Bio-Matratze, ich muss wirklich morgen… Bin zwischendurch mal kurz aufgewacht, weil ich einen aufregenden Traum hatte: Die AB hatte mich am Wickel und als Strafe in den Stau-Raum gesteckt. Ich hab’s so genossen - den Geruch von und die ganzen Leute mit ihren Flüchen und dem Lachen, wenn spontan ein Kaffee ausgegeben und über die neusten Routen geredet wird, auf denen man noch richtig Auto fahren kann.

Mitten in der Nacht schreckt Harald aus einem Alptraum hoch, klitschnass: "Oh Mann, ich bin wieder mal viel zu ehrlich gewesen, da muss morgen früh dringend Claudia mit ihrem Rotstift drüber gehen, eh ich das der AB schicke! Sonst bekomme ich noch mehr Ärger, wenn die meine Gedanken lesen“, denkt Harald, spricht eine Notiz ins Smartphone und schläft wieder ein.