Der ungesunde Traum

Ein Szenario aus dem Jahr 2061 mit den Dimensionen Gemeinschaft/Gesellschaft und Natur/Umwelt

#Ebersberg, #Gemeinschaft & Gesellschaft, #Gesundheit & Ernährung, #Klima & Umwelt

Autor:innen: Roland // Attraktor:innen: Kerstin

Die Umwelt ist zerstört. Ein normales Leben gibt es nicht mehr. Die Gesellschaft ist gespalten und man muss ums Überleben kämpfen.

Damals, so erzählte man sich, als nach einer endlos erscheinenden Zeit sich endlich die Rauchwolken gelichtet hatten und den Blick freigaben auf die Silhouette der Stadt Ebersberg, da erkannten die Bewohner, dass anscheinend ein falscher Traum geplatzt war. 

Der Traum, sich mit falschen Mitteln eine Umwelt zu schaffen, in der sie sich Schritt für Schritt selbst vergiftet hatten, die Tiere, die Pflanzen und sich selbst mit dazu.. Sie taten dies sehenden Auges, doch sich hatten sich vorgemacht, es werde schon irgendwie alles gut gehen. Der Traum eines geheuchelten Zusammenlebens, dass eigentlich im wesentlichen aus Drogenkonsum in Form von Alkohol bestand, den sie tranken in der Hoffnung, ihre berechtigten Zweifel an ihrer ungesunden Lebensweise im Delirium und in der Ekstase zu ertränken. 

Damals, als sich die Rauchwolken verzogen hatten, sahen sie erstmals eine Realität, die so keiner gewollt hatte. Zwei Sonnen standen nun am Himmel, eine die immer schon da gewesen sei, so erzählten es sich wenigstens die Alten, und eine neue, künstliche Sonne, die irgendwie auf geheimnisvolle Weise in der Explosion entstanden war durch die Zusammenballung allen Giftes und aller Negativität in der Region Ebersberg. Die eine weiss-gelbliche Sonne nannten die Ebersberger Melancholia, die andere, neu hinzugekommene, rötlich schimmernde Sonne Glyphosa. 

Theresa und Sergey standen auf der Stadtmauer und blickten auf die Müllberge vor der Stadt. Es war Vormittag. Morgens waren sie aus dem Tunnel der ehemaligen Umgehungsstraße gekrochen, der ihnen für die Nacht Unterschlupf gewährt hatte. Sie hatten beide begierig Ihr Neura gelöffelt, ein grüner Brei, der aus dem Bio-Reaktor kam und von dem sich alle Ebersberger drei Mal am Tag ernährten. 

Es waren gefährliche Zeiten. Man konnte niemandem trauen und so fassten Theresa und Sergey sich fester an den Händen. Das beste war, den Blick zu senken und nicht aufzufallen. Von der Stadtmauer aus hatte man durch die verbrannten Baumstümpfe der ehemaligen Allee einen guten Blick auf den Odelburger See. Seine gelb-grünen Schlieren glänzten in der Sonne und von den Müllhalden der Ebersberger Höhe hörten sie das Rascheln der Ratten. 

Die Luft war erfüllt vom beissenden Gestank von Autoabgasen. Der Clan der Bonzer lieferte sich wohl wieder eine seiner berüchtigten Auto-Jagden. Vom Marienplatz aus immer linksrum zum ehemaligen Landratsamt und wieder links, und dann, in einer steilen Kurve, in der die Bolliden bis auf 370 km/h beschleunigten, so lange an der Ruine von St. Sebastian vorbei, bis sie wieder am Marienplatz ankamen. 

Die Bonzer waren hervorgegangen aus ehemaligen Stammtisch-Bruderschaften, deren Motto nun lautete: „Nur die Macht hat Macht. Nur Nehmen ist Leben. Gas geben ist das Gesetz.“ Gemeinsam mit den Clans der Effenzer und der Abseiter teilten sie sich die Macht im neuen Ebersberg. Auf hochgetunten Kampf-SUVs patroullierten sie durch die Stadt, immer darauf bedacht, dass alle ihre Freiheits-Prämie bezahlten, die die Bonzer für sich beanspruchten. 

Die Effenzer hingegen waren ein Überbleibsel der ehemaligen Bürokraten in der Stadt. Weil es fast nichts gab, was zum Überleben taugte, erließen sie 34 wissenschaftliche Regeln, an die sich alle Bürger der Stadt halten mussten, wollten sie nicht liquidiert werden. Alles wurde priorisiert nach den Gesetzen der Indenz. Je mehr Indenz, desto höher war die Priorität für die Bürger, 

etwas zu essen zu kriegen und eine einigermaßen lebenswerte Behausung zugeteilt zu bekommen. Stammburg der Effenzer war das ehemalige Landratsamt, von dem auch sie die Stadt regierten. Ihr Spezialgebiet war die Limitierung von Bildung. Da niemand wusste, welche Irrlehren in den Schulen letztendlich zur großen Explosion geführt hatten, war Bildung grundsätzlich verboten. Nur mit persönlicher Genehmigung und unter strenger Reglementierung durften in der Bibliothek des ehemaligen Klosters im Finanzamt vergilbte Folianten gelesen werden wie „Die Bedeutung des Leverage-Effektes zur Cash-Flow-Optimierung“ oder „Der Einsatz von Design-Thinking in der Künstlichen Intelligenz“. Normalen Menschen war der Zutritt zur Bibiothek streng verboten. 

Theresa hatte nicht die geringste Ahnung, warum ihr Bruder sich ausgerechnet den Abseitern angeschlossen hatte. Die Treffen der Abseiter fanden vor den Burgmauern im ehemaligen Gewerbegebiet Nord statt. Dort fühlten sie sich sicher, denn alle Bäume bis an den Horizont hin waren gefällt, sodass Nicht-Eingeweihte sich den Treffen der Abseiter nicht ohne weiteres nähern konnten, ohne sofort von ihren Wachposten bemerkt zu werden. Die Abseiter waren aus den ehemals in Ebersberg praktizierten Religionen hervorgegangen. Ihr Mantra war: „Hüte Dich vor Menschlichkeit und Mitgefühl! Dies hält Dich in den Fallstricken des Diesseits gefangen. Nur Eiseskälte bringt Abstand und damit Seelenfrieden im Abseits, nach dem wir uns alle sehnen. Ökologie ist Teufelszeug, Toleranz ist Teufelszeug, Vielfalt erzeugt Einfalt.“ 

Von ihrem sicheren Ausblick hoch auf der Stadtmauer sahen Theresa und Sergey, wie die Abseiter in ihren düsteren Kutten ein riesiges hölzernes Wildschwein auf die Stadt zurollten und vor dem Stadttor postierten. Die Dämmerung brach allmählich herein über Ebersberg und eine pechschwarze Nacht legte sich bleiern über die Stadt ...