Der Ruf des Muezzins

Ein Szenario aus dem Jahr 2061 mit den Dimensionen Gemeinschaft/Gesellschaft und Politik

#Ebersberg, #Gemeinschaft & Gesellschaft, #Gesundheit & Ernährung, #Klima & Umwelt, #Politik, #Technik

Autor:innen: Stefan, Oliver // Attraktor:innen: Kerstin

Ein düsteres Szenario über starre Vorschriften, eine ökologische Indoktrination, Kontrolle und unwürdige soziale Verhältnisse.
Von einer machtbesessenen Landrätin, die mit ihrer Familie im Schloss wohnt und ein Sündenregister über ihre Mitbürger führt; von Ungleichverteilung in der Gesellschaft, die zum Aufstand der Ebersberger führt.

Morgengrauen 

Der Ruf des Muezzins schallt über Ebersberg, die Stadt erwacht und damit auch Johann.  

Er quält sich aus seinem Bett, schaut auf die leere Seite, seine Frau hat ihn nicht geweckt. Gut dass er den Ruf gehört hat. Dabei, Ruf, Muezzin, wieso Muezzin. Hat die alte Kirche endlich einen Mieter gefunden? Benommen wankt er ins Bad, Katzenwäsche, ab in die Arbeitsklamotten, eigentlich sollte er sie mal wieder waschen, aber das muss heute reichen. 

Jetzt nur den Spießrutenlauf vorbei an der Familie und nichts wie weg. In der Tischlerei wartet schon das gemeinsame Frühstück mit den Kollegen. 

Also dann mal los. Alle sitzen in der großen, lichtdurchfluteten Küche. 

Sein Sohn scheint es auch nicht eilig zu haben. Auch er kommt reichlich verschlafen gerade aus seinem Zimmer. Der Bursche lächelt tatsächlich verliebt dem Hausknecht, auch AuPair genannt, zu. Na ja, wenn das bekannt wird, dann gute Nacht Marie, denkt sich Johann im Stillen und hofft, dass es die anderen nicht mitbekommen haben. 

Noch einen kurzen Rundblick auf das Idyll am Küchentisch und dann nichts wie weg.  

Aha, Theresa ist schon wieder dabei das Sündenregister zu ergänzen, wie immer. 

Großmutter und Luisa, die Mutter, lümmeln am Tisch und lassen sich von Sergey, dem Au Pair, bedienen. 

Frischer Kaffee, auch wenn es wieder nur Carokaffee ist. Für echten Kaffee würde sogar er sich setzen.  

Was liest Großmutter denn da schon wieder. Es sieht so aus wie ein uraltes Buch. Luisa ist wie immer in Ihre Guru-Literatur vertieft. 

Niemand beachtet ihn, das ist auch gut so. 

Also wie immer nichts Neues. Ein kurzes „ich bin dann mal weg“ in Richtung Küchentisch gemurmelt und die Tür fällt hinter ihm ins Schloss. 

Die breite Schlosstreppe nimmt er schon wesentlich beschwingter auf seinem Weg in das Erdgeschoß, wo sein Fahrrad Seite an Seite mit dem Rest der Familienräder wartet.  

Johann denkt sich: 

Es hat schon sein Gutes wenn man als Vater der amtierenden Landrätin im Ebersberger Schloss wohnen darf. Auch wenn die Familie mittlerweile komplett Gaga ist. 

Wieso lässt Sergey immer sein Rad mitten im Weg liegen, so erschöpft kann er von der kurzen Fahrt von der Sammelunterkunft zum Schloss nicht sein. Aber was soll‘s.  

Drüber gestiegen und los zum Frühstück.  

Damit entflieht Johann erst einmal den Zwängen der Familie und radelt in die Freiheit zur Tischlerei. 

Tischlein deck Dich, oder das Schweigen der Belämmerten. 

Luisa, Mutter und nominelles Oberhaupt der Familie, zuckt kurz zusammen als die Tür in das Schloss fällt. „und weg ist er“ denkt sie sich. „ Solange er den Frieden in der Familie nicht stört kann er ja machen was er will. Yoga im Radio fängt auch gleich an, ich muss mich so langsam fertig machen“. 

Ein Blick in die Runde zeigt ihr, dass alles beim Alten ist. Theresa ist wie immer mit ihren ewigen Listen beschäftigt und Großmutter wälzt schon wieder ihr altes Buch. Wieso ist Rafael so rot im Gesicht, hat er schlecht geschlafen? Und wieso guckt Sergey so verträumt. „Werd‘ einer schlau aus den Bengeln, nachher wollen beide gemeinsam in den Wald und Farn sammeln“, denkt sie sich und widmet sich wieder den neuesten Yoga-Stellungen. Aprops Yoga, auch sie springt auf und begibt sich eilig in das Schlafzimmer, der Radio Guru wartet und nichts ist schlimmer als den Anfang zu verpassen. 

Die Großmutter blättert bedächtig in ihrem Buch, schlürft lautstark ihren dünnen Kaffee und wirft unauffällig einen schweifenden Blick in die Runde. 

„was habe ich nur falsch gemacht“ denkt sie sich. „Hier sollte eine starke Frau der Familie vorstehen und nicht so ein Waschlappen wie Luisa. Und ich musste mich dann auch noch für die Nemesis Theresa entscheiden. Sonst wäre unser Einfluß im Ort gleich null gewesen. Gut, dass ich im Hintergrund noch alle Trümpfe in der Hand habe.“ 

Damit winkt sie Sergey zu sich heran und gibt ihre Anweisungen. „Sergey, bevor Du dich mit meinem Enkel aus dem Staub machst wird hier noch geputzt. Und geh auf den Markt neues Vegan-Vital kaufen. Das ist nämlich aus und bei den Rationierungen auch nicht immer zu bekommen. Also denk dran Du Lümmel“.  

„Jawohl Madam, ich werde das bestimmt nicht vergessen“, murmelt Sergey und denkt sich seinen Teil. 

„Vegan-Vital, als ob sich noch jemand für die alten Leute interessieren würde. Die alte Dame kann froh sein, dass sie ihr Loch im Keller hat, sonst müsste sie zu den anderen Alten in die runtergekommene Autostadt ziehen“. 

„ Madam, ich habe die Liste schon griffbereit, und ihre Sachen auch schon aufgeschrieben. Danach gehe ich noch schnell zur Kläranlage und schaue, ob die Pilze schon reif sind, wie sie verlangt haben“. 

Er flieht lieber eilig zum Putzen in das Bad, um nicht noch mehr Aufgaben zu bekommen.  

Währenddessen, sitzt Rafael selig träumend am Küchentisch. Er stellt sich gerade vor wie der gemeinsame Ausflug mit Sergey enden wird. Er errötet zart und bekommt vor Aufregung einen heftigen Schluckauf. 

Theresa, die bisher keine Notiz von den Geschehnissen am Tisch genommen hat schreckt mit einem Ruck auf.  

„Kann man hier nicht mal in Ruhe arbeiten. Ich ernähre euch und jeder stört und meint ich brauche kein Ruhe. Benimm dich oder geh in dein Zimmer.“ Nach dieser Ansprache widmet sich Theresa wieder ihrer Liste und ignoriert den vor sich hin glucksenden und fiependen Rafael. 

Eine Landrätin hat es nicht leicht. 

Die Liste, ein Computer-Endlospapier, gelocht und von einem billigen nach frischer Tinte lechzenden Drucker bedruckt, enthält die Verfehlungen der gesamten Gemeinschaft Ebersbergs. 

Und sie wartet nur darauf von Theresa ergänzt und erweitert zu werden. 

Diese Liste stellt ihre Erfüllung dar. Hier kann sie Macht ausüben. Den Daumen heben oder senken. Gunst gewähren oder nehmen.  

Wer nicht spurt, der landet auf dieser Liste, und ein Vergehen ist schnell gefunden. 

„wieso habe ich die Liste gestern auf dem Esstisch vergessen“, denkt sie verärgert über sich selbst. „Vater hat bestimmt gesehen, dass ich seinen nutzlosen Freund, den Förster, drauf gesetzt habe. Was fällt dem auch ein die Hausratte vom Bürgermeister zu jagen. Tiere werden nicht gegessen, das sollte doch langsam allen klar sein“. Ihr Blick schweift versonnen zum Kaninchen, welches gerade sein Futter genießt. Irgendwas stimmt hier nicht, aber sie kann nicht sagen was es ist. Ist auch egal, das Kaninchen lebt und somit ist alles in Ordnung. Ihr Blick wandert zurück. „Was ist hier nicht so wie sonst?“. Sie grübelt. 

„Es gibt wichtigeres, weiter geht es mit der Liste, so viel zu tun. Die Gesellschaft kann froh sein, dass ich hier für Ordnung sorge“, denkt sie sich und fängt eifrig an die mit einem abgekauten Bleistiftstummel die Liste zu ergänzen. 

„Omar S., Vergehen gegen die Konsumbeschränkung. Hat mit einem Paket aus Afrika Kaffee bekommen und nicht geteilt. Kommt in die Spalte Gemeinwohl-Vergehen.“ 

„Besuch in der Asservatenkammer, Beweise sichern“ denkt sie laut. 

„Kevin B. besitzt zwei Fahrräder. Sagt eins ist zum Ausschlachten. Spalte Gemeinw...“ 

Sie wird harsch von einer lauten Hupe und dem Flappen von Rotorblättern unterbrochen. 

„Schon wieder zu früh, wenn Angestellte Initiative entwickeln, immer das Gleiche“, denkt sie und springt vom Küchentisch auf. 

Sie schaut aus ihrem Fenster im 1. Stock und sieht ihren Elektrohubschrauber. Dieser senkt sich gerade unsicher dem  Vorplatz entgegen und läuft Gefahr die Hochbeete und die Berieselung derselben unter sich zu begraben. 

Hat Lin Singh wieder getrunken, oder sitzt hier ein Opa aus der Altenbereitschaft am Steuer?  

Fest entschlossen die Katastrophe zu verhindern hängt sie sich wild winkend aus dem Fenster. Im letzten Moment korrigiert der Pilot und setzt den fliegenden Rasenmäher unsanft und leicht schlitternd auf dem Vorplatz direkt vor der Schlosstür auf. 

Staub wirbelt auf und hüllt unsere Landrätin in dichte gelbe Wolken. Fluchend schließt Sie das Fenster, rafft ihre Unterlagen zusammen und stürzt in den Flur, die Treppe hinab. 

Der Tisch liegt nun verwaist. Der Kaffee ist halb getrunken, das Kaninchen mümmelt zufrieden und aus dem Bad dringt das Rumoren von harter Arbeit. Yogamusik rundet das ganze ab.  

Das Frühstück ist beendet. 

Ein etwas hektischer Arbeitsbeginn. Oder, Ordnung gegen Chaos 

Theresa stürzt aus der Schlosstür, wild entschlossen den Piloten zurechtzuweisen und ihn auszutauschen. 

Tatsächlich ist es ihr Pilot Lin Singh aus Sri Lanka, der sie grinsend mit den Worten „ Alles gut, guter Morgen, nix passiert“ empfängt. 

Mit dem Hacken seines Turnschuhs befördert er dabei den Rest seines Joints unter den Pilotensitz. 

Theresa schreit „bist Du von allen guten Geistern verlassen? Du hast wieder getrunken, das war das letzte Mal“. Ihre Stimme überschlägt sich vor Aufregung. „Du bist gefeuert, hörst Du. GEFEUERT“.  

„Aber Miss, wer wird dann fliegen? Ich habe Lizenz und die Pilotengilde das nicht gut finden“. Lin Sing lacht dabei. 

„Spiel hier nicht den Ungebildeten. Mit der Nummer kommst Du nicht durch. Und jetzt los, ich dulde keine Wiederworte. Nicht von Dir!“ 

„Und jetzt flieg schon los. Hast Du den Heli überhaupt gewartet?“ fragt sie im Kommandoton. 

Lin Sing gibt gelangweilt zurück, „Hersteller sagt Wartungsfrei, was soll ich warten? Ich warte sonst schon so lange auf Sie.“ 

Theresa wendet sich angewidert ab. Und so etwas am frühen Morgen.  

„Flieg schon los Du Trottel.“ 

Der Pilot zieht breit grinsend den Helikopter nach oben. Einer der Rotoren streift leicht die Dachrinne. Ziegel fliegen, dann liegt der Vorplatz verlassen da.  

Die 500 Meter zum Landratsamt sind schnell geschafft. Schon liegt es in seiner ganzen Pracht vor Ihr. Ihr Penthouse auf dem Dach glänzt in der Sonne. Die Sonnensegel darauf geben dem ganzen etwas majestätisches.  

Der Pilot setzt leicht grinsend zu einem taumelnden Landeanflug an.  

Vor dem Landratsamt hat sich trotz der einsetzenden Hitze wieder die immer gleiche Gruppe an Nörglern und Schmarotzern versammelt. Das wird wieder einmal eng. 

Es ist kaum Platz zum Landen, denkt sich der Pilot. „Uuups, das Gras war wohl doch nicht das Richtige zum Frühstück. Naja, runter komm ich immer“. 

In einer wilden Schaukelbewegung nähert sich der Heli der auseinander spritzenden Menge. Die Letzten hechten zur Seite, bevor der Heli mit einem harten Schlag zwischen Bahnhof und Landratsamt aufsetzt. 

Die Tür springt auf, eine lange Schlange Computerpapier entrollt sich und findet seinen Weg auf den Boden.  

Ein Rad knickt etwas ein, aber die Landung ist geglückt. 

Theresa wirft dem Piloten einen letzten giftigen Blick zu, bevor sie aus der Kanzel springt. Hektisch versucht sie die Liste wieder einzufangen.  

Sie bemerkt erst nicht, dass sich um sie und ihr Gefährt ein Kreis von grimmig dreinblickenden Mitbürgern sammelt.  

Auch wenn sie Mitbürger eigentlich anders definiert. 

Endlich, der letzte Meter Papier ist wieder eingefangen. Sie richtet sich schwitzend auf und erstarrt. Panisch schweift ihr Blick in die Runde. Ein gehetzter Blick Richtung Landratsamt. Sehen die Wachen denn nicht was hier vor sich geht? Diese aber sind nicht auf ihrem Platz. Dienstbeginn ist erst in 4 Minuten. 

Ihre Gedanken rasen „wie komme ich hier unbeschadet raus. Ich bin die Landrätin. Sie dürfen mir nichts tun. Lin Singh muss mir helfen“.  

Mit einer barschen Geste winkt Sie Lin Singh zu. 

Dieser schaut gelangweilt und gießt sich breit grinsend aus einer Thermoskanne Tee in den Becher, den er zwischen seine Beine geklemmt hat. 

„Miss, ich habe fertig. Pause. Ich bin hier nur der Pilot, meine Arbeit ist getan“.  

Bevor Theresa etwas erwidern kann, rückt auch schon die Menge, Banner und Plakate schwenkend, heran. Sie ist umringt von bärtigen, ungepflegten Menschen in Arbeitskleidung. Zerlumpte abgemagerte Menschen, die ihre Forderungen laut herausschreien. 

„Wasser... Essen... mehr Dünger... Anerkennung... Gerechtigkeit!“ 

Wie oft hat sie das schon gehört.  

„Dies sind die Bauern, die meinen von der Gesellschaft ungerecht behandelt zu sein. Die haben mir gerade noch gefehlt.“ Fieberhaft überlegt sie, wie sie die Menge besänftigen kann. 

Ein Bauer fällt ihr auf. Er ist still, in sich zusammengesunken und schaut sie mit alten, rheumatischen Augen unverwandt an. 

„Du, komm her!“ Sie deutet auf den Bauern und winkt ihn zu sich heran. 

„Ich will mit ihm reden, alle anderen zurück!“ 

Der Bauer tritt schlurfend vor. Fast ist es als ob ihn die Bürde seiner Jahre und die andauernden Entbehrungen zu Boden drücken wollen. 

Mit heiserer Stimme hebt er an „Frau Landrätin, wir brauchen Hilfe. Ihre Hilfe“. Er schluchzt. 

Theresa schaut ihn unverwandt an. Dieses Spektakel muss so schnell wie möglich ein Ende haben. 

Wieso nimmt sie überhaupt den Heli, wenn sie doch nicht ungestört in ihr Amt kommen kann. 

„Also los, machen Sie schon, ich habe nicht ewig Zeit“.  

Der Alte fährt fort, „ so kann es nicht weitergehen. Immer nur Gemüse produzieren... Die Böden laugen aus... Wir benötigen mehr Dünger, Phosphate... Nährstoffe“. 

Theresa unterbricht. „laut unseren Berechnungen verbraucht ihr immer noch zu viel. Und die neuen Direktiven aus der Umweltregierung sagen, dass der Ökologie und Umwelt Standard immer noch nicht gemäß Plan erfüllt ist. Was noch?“ 

Der Bauer murmelt kaum verständlich. „Immer der Plan, Pflanzen brauchen Nährstoffe. Seit Importe verboten sind sollen wir immer weiter steigern... das geht nicht. Unsere Rationen werden gekürzt, damit ihr euch satt essen könnt. 

Und Fäkalien zum Düngen bekommen wir auch nicht genug. Wir sind am Ende.“ 

„Bursche, Du vergisst Deinen Platz! Es ist eine Ehre Bauer zu sein.“ 

„Wenn  man noch Bauer ist und nicht wegrationalisiert wurde wie diese Menschen hier. Ich bin zu alt, ich muss nächste Woche in das Altenlager umziehen. Und wer gibt das Wissen weiter?“ 

„Hör auf mir Geschichten zu erzählen. Ich kenne die Zahlen. 

Ihr seid einfach nur faul. Die Kolchosen haben sich bewährt. Und jetzt Schluss damit, lasst mich durch“. Theresa stampft wütend mit ihrem Fuß auf den Boden. 

Im Hintergrund zündet sich der Pilot genussvoll einen weiteren Joint an, lehnt sich herüber und schließt die Tür der Kanzel. 

Theresa ist jetzt vollkommen auf sich gestellt. Ihr Blick wandert zur Eingangstür. Die beiden weiblichen Wachtposten erscheinen gerade zum Dienst. Sie erstarren und beginnen die Treppe herunter zu hasten. Theresa fest im Blick und entschlossen ihre Chefin zu retten. 

„Wir wollen Essen... Gerechtigkeit... Arbeit...Männer in die Verwaltung...Impfungen...“ Die Sprechchöre beginnen wieder, Aggression, Gewalt liegt in der Luft.  

Aber haben die Wachen Theresa fast erreicht und bahnen sich mit ihren Holzstöcken einen Weg durch die Menge.  

Endlich, Theresa zittert am ganzen Körper. Ob vor Aufregung oder blanker Wut ist ihr noch nicht ganz klar. Aber sie ist fest entschlossen die Liste gleich um etliche Namen zu erweitern.  

Das wird sie wieder beruhigen.  

Wer aus der Reihe tanzt hat es nicht anders verdient. 

Fast fällt sie den Wachen um den Hals, so erleichtert ist sie, dass sie gerettet ist. 

„Endlich, schafft mich sofort hier raus. Wozu habe ich euch denn.“ 

Die Wachen nehmen Theresa in ihre Mitte und drängen sich durch die Menge Richtung Eingang und die rettende Sicherheit des Landratsamts. 

Kaum in der fast menschenleeren Eingangshalle angekommen schüttelt Theresa, ohne sich weiter um diese zu kümmern, ihre Bewachung ab. 

Sie eilt schnellen Schrittes zum Aufzug. Ein knappes Nicken in Richtung Empfang. Ein kurzes Lächeln für die Personalchefin, die gerade aus dem Aufzug tritt, das ist alles was sie ihrer Umgebung gönnt. 

Nur keine Vertraulichkeiten. Wer weiß, wer der Nächste auf der Liste wird. 

Ihre Vorzimmerdame hält ihr schon lächelnd den ersten Stapel Dokumente entgegen, als sie ihren Bürotrakt betritt. 

„Guten Morgen Frau Landrätin. Ein wunderschöner Tag. Und wie schön es ist sie zu sehen.“ 

Theresa reißt der Dame die Papiere aus der Hand verschwindet wortlos in ihrem Büro und knallt die Tür zu. 

„Zuhause, in Sicherheit. Das ist mein Reich“. 

Achtlos schmeißt Theresa die Papiere auf einen Stuhl und schaltet ihren Computer ein. Die Liste mit den Verfehlungen neben sich startet sie auf ihrem Rechner den Gemeinde Score. 

Das Punktesystem sagt ihr genau, wer in demnächst gemeinnützige Arbeit leisten oder Karotten essen muss, um Punkte gut zu machen. 

„6% liegen immer noch im roten Bereich. Lernen es die Leute denn nie“. 

Sie scrollt weiter. „Lebensmittel Produktion..., ökologische Indoktrination..., sieht alles gut aus. Was die Leute denn haben. Es geht ihnen doch gut. Wir sorgen für sie. Wenn sie sich anpassen“. 

So vergehen zwei Stunden. Die Personen auf der Liste müssen eingepflegt werden, Mails beantwortet und die Karriere will auch im Blick behalten sein.  

Das Klingeln ihres Telefons schreckt sie unsanft aus Ihren Betrachtungen auf. 

„Das Büro der Landrätin bitte.“ 

„Am Apparat. Was gibt es, wer spricht?“ 

„Entschuldigen Sie die frühe Störung, hier ist... sie wissen schon... ich soll Ihre Familie im Auge behalten“. 

„Und das gibt Ihnen das Recht mich in meinem Büro anzurufen?  

Wir hatten vereinbart, dass das nicht geht. Was meinen Sie was das für Konsequenzen haben kann. Aber jetzt schießen Sie schon los. Was ist so wichtig?“. 

„Es geht um mmhh... es geht um Ihren Bruder und den Russenjungen. Ich meine Ihren Knecht. Die beiden wurden am Waldrand im Heustadel... naja... sie wurden im Heustadel... sie waren da zusammen... Sie wissen schon“. 

Theresa wird bleich wie die Wand.  

„Danke...ich habe verstanden.. legen sie auf... ich melde mich.“ 

Angeekelt lässt sie den Hörer auf das Telefon fallen.  

Sie murmelt „Immer diese Männer, immer die Männer“. 

Eigentlich müsste sie sofort tätig werden und Ihren Bruder den ökologisch konservativen Sittenwächtern melden. 

Aber erst einmal nachdenken. 

Wohin würden sie Rafael schicken. Welche Enklave ist schlimmer. 

Grafing, Hallig Hooge (20m unter normal Null), in die italienische Wüste, oder auf eine der Inseln des Weserberglandes.  

Erst einmal in Ruhe nachdenken. 

Dazu kommt es aber nicht. Dieser Tag ist noch nicht zu Ende. 

Es ist noch nicht einmal Mittag! 

Es klopft an der Bürotür. 

„Ich bin nicht zu sprechen“. 

Es klopft wieder, die Tür öffnet sich und eine Polizistin der Öko-Polizei tritt ein. Die Grüne Uniform mit den schwarzen Kragenspiegeln sieht aus wie frisch gebügelt. 

Richtig schneidig wie sie blitzt denkt sich Theresa. 

Aber trotzdem, was will sie eigentlich? 

„Was fällt Ihnen ein, ich bin beschäftigt. Holen Sie sich gefälligst eine Termin“. 

„Frau Landrätin, leider kann diese Angelegenheit nicht warten. Es geht um Ihren Vater.“ 

„Was ist jetzt schon wieder mit ihm. Hat er Metall oder Plastik beim Schreinern verwendet. Kommen Sie mir nicht immer mit so Nebensächlichkeiten. Er bekommt einen Minuspunkt, Danke, Sie können abtreten“. 

Theresa wendet sich wieder Ihren geliebten Statistiken zu und verscheucht den Polizisten mit einer unwirschen Handbewegung in Richtung der Tür. 

„Frau Landrätin, diesmal ist es nicht so einfach“. 

„Was denn noch, was kann der Trottel denn sonst noch anstellen“. 

„Frau Landrätin, Ihr Vater hat ein Tier getötet. Er sagt zwar es ist im Wald von einer Palme, die er gefällt hat, erschlagen worden, aber Tiertötung ist ein schwerwiegendes Delikt.“ 

Der Polizist setzt sich schwer auf einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch und wischt sich die Stirn.  

Teresa schaut die Polizistin scharf an und erwidert „Gut gemacht. Das gibt Ihnen aber kein Recht hier so rein zu platzen.  

Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit, raus hier“.  

Mit beleidigtem Blick springt die Ordnungshüterin auf, knallt die Hacken zusammen und tritt ab. Eigentlich hatte sie ein Lob erwartet. „Hätte ich mir denken können, die denkt auch nur wie Sie Ihre Familie retten kann. Aber das kann sie sich schenken“. 

Erbost knallt sie die Tür hinter sich zu. 

Theresa sinkt in Ihrem Sessel zusammen, abwesend greift sie zum Telefon und beginnt zu wählen. 

„Großmutter ich brauche Deinen Rat“ flüstert sie in den Hörer. „Vater ist im Knast. Er hat ein Tier getötet. Was soll ich tun. Meine Karriere steht auf dem Spiel“.  

Am anderen Ende hört sie nur ein lautes Atmen, es knackt. Dann ist die Leitung tot. 

Von dieser Seite scheint keine Hilfe mehr zu kommen. 

Alte an die Macht. Oder Pilze der Erkenntnis. 

Die Großmutter legt das Handy zur Seite, ihr Blick schweift Gedankenverloren zur Decke ihrer Kellerbehausung. Nackter Backstein, eine nackte Led und Wasserflecken.  

„Was für ein Leben ist das, und ich dachte die Göre wird langsam erwachsen. Na gut, dann reaktiviere ich mal die alte Damenriege“. Sie greift zum Handy, tippt eine kurze Kombination und schickt die Nachricht ab.  

Sie wählt eine Nummer. „ Sergey, gut, dass ich Dich erreiche. Hast Du die Pilze? Ja? Bring Sie sofort bei mir vorbei... nein, sofort. Was? Du kannst nicht? Wo? Gut, leg sie hinter die Hecke, jemand holt sie ab. Serg...“ Die Leitung ist tot. Kopfschüttelnd setzt sie sich auf einen alten Hocker und beginnt zu warten und überlegt dabei das weitere Vorgehen. 

Nur Minuten später trifft die erste Mitstreiterin ein, kurz darauf weitere drei alte Damen. Der Kleidung nach zu urteilen sind die letzteren Bäuerinnen. Eine von ihnen hat ein Bündle dabei, welches Sie auf den Tisch in der Mitte legt.  

Alle setzen sie sich. Es beginnt ein Gemurmel aus dem nur einige Wortfetzen zu verstehen sind. „ Notfall... müssen handeln... Wasserversorgung... Du machst... ja, Pilze...Leute beruhigen...jetzt los“. 

Die Versammlung löst sich genauso schnell auf, wie sie begonnen hat. Jeder strebt mit seiner eigenen Aufgabe befasst nach draußen. Nur die Großmutter bleibt alleine zurück. 

Sie zieht einen alten, verbeulten Laptop unter dem Bett hervor und beginnt in einer staubigen Kiste zu wühlen. Sie findet was sie gesucht hat, einen zerknüllten Zettel mit einigen Zahlen und Buchstaben-Kombinationen.  

„Das ich die nochmal brauchen würde“ denkt sie versonnen. 

Dieser Zettel ist ihre Lebensversicherung. Es sind die Passwörter für die Hintertüren zum Zentralrechner.  

„ Blockchain deaktivieren“, murmelt sie.  

Sie öffnet ein Programm und beginnt zu tippen. „ Dann setzen wir doch mal alles auf Start“. Mit einem triumphierenden Grinsen drückt sie ENTER.  

Mit ihrer Aktion hat sie soeben alle Daten der Gemeinschaft auf Null gesetzt. Jetzt sind alle gleich, alle fangen mit einem reinen Register von vorne an. Befriedigt murmelnd gießt sie sich eine frische Tasse echten Kaffee ein und beginnt zu dösen. 

In der Zwischenzeit waren auch ihre Mitstreiterinnen nicht untätig geblieben. Die Pilze, die, wie sich später herausstellte, Magic Mushrooms waren, befinden sich jetzt im Trinkwasser.  

Und hier entfalten sie bald ihre erstaunliche Wirkung. 

Ebersberg wie es singt und lacht, oder alle Macht den Drogen. 

Theresa schaut aus Ihrem Büro. Die breite Fensterfront bietet einen atemberaubenden Blick auf die Alpen, die Palmenhaine Richtung Grafing und leider auch auf das Geschehen vor dem Landratsamt. 

Dort liegen sich Leute in den Armen, der Wachdienst sitzt benommen auf den Stufen. Und was ist das, Die Personalchefin küsst einen dreckigen Bauern.  

Entsetzt wendet sie sich ab. Sie stürmt zur Tür und reißt diese auf, nur um zu sehen, wie Ihre Bürochefin auf allen Vieren im Kreis kriecht. Dabei lallt sie „Nieder mit der Bürokratie, es lebe die freie Liebe“. Sie schaut auf und erblickt ihre Chefin. „Mädel, nimm auch nen Schluck“, damit zeigt sie auf die Wasserkaraffe, die gerade ihren letzten Inhalt in den Teppich entleert. 

Theresa entflieht dem Chaos, indem sie zurück in ihr Büro stürzt. Sie knallt die Tür zu und verschließt diese. 

Erschöpft fällt sie in Ihren Sessel und fängt an hemmungslos zu schluchzen. 

Zur gleichen Zeit rottet sich eine Menge wütender Bürger auf dem Marktplatz zusammen. Es geht das Gerücht um, die Landrätin würde nur für ihre Familie sorgen.  

Während der Rest der Gemeinschaft selig vor sich hin dämmert formiert sich ein Protestzug, der sich in Richtung Landratsamt in Bewegung setzt. Polizistinnen der Bereitschaft stellen sich aber entschlossen dem Zug entgegen.  

Die Menge wird unentschlossen, stoppt und löst sich schließlich auf. Soweit geht die Bereitschaft nun doch nicht. Autorität ist schließlich Autorität. 

Der Abend senkt sich auf Ebersberg. Ruhe kehrt ein. Die Letzten torkeln benommen nach Hause. Es wird still. 

Der Morgen danach, oder Hase gut, alles gut. 

Der Ruf des Muezzin schallt über Ebersberg, die Sonne strahlt vom blauen Himmel. 

Johann schlurft am Küchentisch vorbei. Er hat ein Bündel unter dem Arm. 

Luisa schaut verträumt von Ihrem Yogabuch auf und nippt von dem tollen Ebersberger Wasser. Gut das sie gestern alle verfügbaren Kanister und Flaschen voll gemacht hat. 

„Wo willst Du denn mit den Sachen hin, Johann?“ 

„Ich ziehe aus. Bei den „Outlaws im Wald fühle ich mich wohler“. Er schaut verlegen. „ Wir verstehen uns, keine Ducken und Anpassen. Ich will wieder frei leben können. Hier ist es mir zu eng“. Er wendet sich der Tür zu und verlässt die Küche. 

Großmutter und Theresa haben die Szene gespannt beobachtet. 

Die alte Dame erhebt angespannt ihre Stimme. 

„Theresa, verstehst Du was hier gerade abläuft? Das, was gestern passiert ist? Dass Dein Vater Euch verlässt? 

Ich hatte Dir auch Kapitel 23 aus meinem Buch gegeben, nicht nur die Kapitel der Macht. Ich hatte erwartet, dass Du Dir dieses zu Herzen nimmst. Darin steht doch, wie Familien bestehen können. Aber Dir scheint nur Deine Karriere wichtig zu sein“. Ihr Ausdruck wird grimmig. 

„Ich habe all die Jahre versucht die Familie zu schützen. Ich kann nicht allen helfen, da diese Gesellschaft Abweichungen nicht toleriert. Unterdrückung im Namen der Öko-Doktrin bringt uns nicht weiter. Versteh das endlich“. Sie schaut Theresa scharf an.  

„Du treibst Die Familie auseinander. In dieser Gesellschaft wird man bei Abweichungen entweder ausgeschlossen, oder man schließt sich lieber selbst aus. 

Ich kann das nicht länger mit ansehen. Ich gehe auch. Lieber lebe ich im Ghetto in der Autostadt, als dass ich das hier länger ertrage“. 

Theresa schaut entsetzt, erwidert aber nichts. Sie wirkt wieder einmal verzweifelt. 

Gut, dass Rafael und Sergey vermisst werden. Dann muss sie sich nicht auch noch um die beiden kümmern. 

Sie erhebt sich erschöpft, nickt kurz in die Runde und begibt sich auf ihren Weg zum Amt. Heute wird sie zu Fuß gehen. 

Die beiden Frauen bleiben alleine zurück. Jeder versunken in seiner Welt. 

Luisa schwelgt in bunten Gedanken, der Yoga Lehrer nimmt Gestalt an. Die Welt ist im Lot. 

Sie wundert sich nur, dass das Kaninchen plötzlich schwarz und nicht mehr, wie gestern noch, weiß ist. 

Großmutter überlegt, wie sie am besten Ihren Schwiegersohn im Wald besuchen kann. Ob die Männer es zulassen? 

Sie entdeckt einen Zettel unter einem Stapel Papier.  

Er ist von Rafael.  

„Liebe Familie, Sergey und ich lieben uns. Wir gehen nach Russland, in seine Heimat. Dort ist man Menschen wie uns wohl gesonnener. Tschüss.“ 

Die Palmen rauschen, der Schlossplatz liegt verlassen in der strahlenden Sonne. 

Das Kaninchen mümmelt ruhig an seinem Futter und erkundet dann seine neue Heimat.