Autor:innen: Julian // Attraktor:innen: Dorothee
Wenn Kommunen einschränken und junge Leute zum Ausbruch bewegen. Lest dazu meine Geschichte, wie es Charlie in dieser Welt in 2061 ergeht...
Es ist Freitagnachmittag und seit 2 Stunden hängt Charlie mit ihren Freundinnen ab. Wie jeden Abend gibt es heute auch wieder frisches, gegrilltes Gemüse und die drei müssen ihr Tagespensum für die Kommune leisten. Beim Gemüsewaschen und -schneiden tauschen sie sich über die abgelaufene Woche aus und Charlie genießt die Neuigkeiten auch über die Stadtteilgrenzen hinaus, schließlich weiß ihre Freundin Säsy immer bestens Bescheid. Abends wartet auf Charlie nur die übliche Leier und die Fahrradgeschichten ihres Bruders und Vaters, die innerhalb ihrer Kommune für die Radl Reparaturen verantwortlich sind. Als sie darüber tief seufzt, fällt ihr wieder der stickige, muffige Geruch nach verbrauchter Luft auf, der so typisch ist für das Zusammenleben in großen Gruppen im Jahr 2061 in Ebersberg. Schnell wünscht sie sich, mal wieder ihren Opa Julian zu besuchen, der in der Natur außerhalb der Kommune wohnt. Zum Glück steht am morgigen Samstag das Sonnwendfeuer am Aussichtsturm an.
Das Sonnwendfeuer ist eine der wenigen Konstanten, die sich in den letzten 40 Jahren gehalten haben. Da trifft sie immer ihren Opa, mit dem sie dann genüsslich ein Bierchen trinkt und in den Geschichten von ihm und seinen Freunden schwelgt. Früher hatte jeder sein eigenes Haus, ist seinem Beruf nachgegangen, hat geschaut, dass er seinen persönlichen Wohlstand stetig erhöht und musste sich um nichts und niemanden Sorgen machen. Ganz nach dem Motto „wenn jeder an sich denkt, ist an jeden gedacht“. Das hat so lange gut funktioniert, bis das Sozialsystem aufgrund der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich zusammengebrochen ist. Stattdessen haben sich kleinere autarke Einheiten gebildet. Schon davor hatte der Straßenverkehr dazu geführt, dass immer weniger Beziehungen zwischen den Ebersberger Stadtteilen gepflegt wurden und sich die Menschen nur auf die unmittelbare Nachbarschaft konzentriert haben. Die sechsspurig ausgebaute ST2080 und die alte, ebenfalls vierspurige, B304 waren Barrieren, die die Stadtteile komplett isoliert haben.
Charlie spürt wieder ihre Sehnsucht, aus der Begrenztheit der Kommune auszubrechen und die größere Welt kennenzulernen. „Da muss es doch noch mehr geben als das, was ich bisher kenne… Warum eigentlich auf morgen warten? Warum nicht heute schon zum Opa in den Wald radln?“
Sie verabschiedet sich schnell von ihren Freundinnen mit den Worten „ich muss mich um meinen Bruder Sascha kümmern“. Stattdessen schwingt sie sich auf ihr Radl und fährt in den Ebersberger Forst. Voller Tatentrang nimmt sie dieses Mal abenteuerlustig einen anderen Weg in den Forst und verfährt sich prompt. Etwas orientierungslos landet sie an einem vermutlich ehemaligen Forsthaus mit Biergarten. Dort macht sie Pause, setzt sich ins Gras und genießt erstmal die absolute Stille. Plötzlich raschelt es…
Aus der Bruchbude des ehemaligen Forsthauses kommt ein Schatten…ein Jugendlicher, der vermutlich etwas älter ist als sie und langsam auf sie zukommt. „Na, hast du dich verfahren? Ich bin der Kurt… ich möchte dich nicht erschrecken, aber ich wohne hier“.
Aus der sicheren Entfernung lässt sie sich auf eine kleine Unterhaltung ein und am Ende bietet Kurt ihr an, sie zu ihrem Opa zu bringen. Unterwegs kommen sie im Forst an zahlreichen, kleinen Holzhäusern vorbei, die sowohl am Boden stehen als auch als Baumhäuser zwischen den Bäumen befestigt sind. Kurt kennt die meisten Bewohner und Charlie spürt das Miteinander im Wald, von dem ihr Opa auch immer schwärmt. Als sie nach ca. 20 Minuten bei ihrem Opa ankommen, verabschiedet sie sich von Kurt und fragt „Du kommst morgen auch zum Sonnwendfeuer, oder?“
„Davon bin ich eigentlich kein großer Fan, aber vielleicht mache ich dieses Mal eine Ausnahme“. Mit einem Augenzwinkern verabschiedet er sich und Charlie fällt ihrem Opa in die Arme, der mittlerweile aus seinem Haus gekommen ist. Wie immer bemerkt sie sofort, wie schön grün und saftig es hier am Waldrand ist und die Erderwärmung der letzten Jahrzehnte lässt es immerhin zu, gut im Wald und den Holzhäusern zu leben.
Nach einer sehr guten Nacht im kleinen, privaten Reich ihres Opas wacht sie morgens bester Laune auf und freut sich auf den Samstag mit ihrem Opa. Sie möchte vor allem das Leben aufsaugen, dass die sogenannten Eigenbrödler und Kommunen-Verweigerer hier draußen leben. All das, was es früher einmal gegeben hat, ein starkes Miteinander, aber eben auch Privatsphäre und selbstgesteuerte Tagesabläufe. Über den Tag hinweg merkt sie, dass sie sich nicht nur darüber freut und über das Zusammensein mit ihrem Opa. Neben der Vorfreude auf das Sonnwendfeuer ist da noch ein anderes, unbekanntes und gemischtes Gefühl. Es fühlt sich fast etwas wie Nervosität an und wie das mulmige Gefühl vor Schulprüfungen. Je länger sie darüber nachdenkt, vermutet sie, dass es ihr Drang nach einer Veränderung ist. Was sie jedoch noch nicht weiß, ist, dass es auch an der Unsicherheit liegt, ob sie Kurt wieder sehen wird.
Es wäre ihr auf jeden Fall zu wünschen…