Autor:innen: Gabi // Attraktor:innen: #4
Grundeinkommen für alle, jeder darf der Sinnhaftigkeit selbst nachgehen. Die Firmen, die der Nachhaltigkeit zuträglich sind, überleben, der Rest wird aussortiert. Wir leben in einem „bäuerlich“ geprägten Umfeld, ursprünglich, näher an den realen Bedürfnissen, geselliger und simpler. Viel Kontakt und öffentliches Leben, Werte werden groß geschrieben, Diversität erhält viel Akzeptanz; sozial-ökologisch und ökonomisch sind kein Widerspruch.
Ein Tag aus dem Leben von Harald, 48 Jahre, Versicherungsvertreter
Mittwoch, 17. Dezember 2036 in der Nähe von Frankfurt
Manchmal wacht er auf, zu früh, und möchte etwas tun: Bäume ausreißen oder losschreien. Nicht oft. Meistens ist er zufrieden, sein Leben, seine Familie, sein Beruf. Es ist ein gutes Leben. Wenn man es recht bedenkt, hat er keine Sorgen. Selina ist eine vernünftige Frau, ihre Ansprüche und Wünsche bleiben im Realisierbaren. Sie ist vielleicht ein wenig leidenschaftslos, nicht nur sexuell. Auch sexuell, vielleicht sogar vor allem sexuell, aber auch sonst. Aber wenn er alte Filme sieht, ist er froh, sie an seiner Seite zu haben: er würde unter solchen Frauen, unter solchen Beziehungen leiden, in der Frauen ihre Männer unter Druck setzen, weil sie nicht genug Geld heimbringen, in der das Haus oder der Schmuck der Nachbarn wichtiger ist als das, was man selbst hat.
Sie leben in einer hübschen Wohnung, in einer Anlage, in der viele solcher Wohnungen sind. Sie hatten sich eine Erdgeschosswohnung ausgesucht wegen des Gartens. Darüber ist er heute noch froh. Am Anfang war es schön für die Kinder, ein Baumhaus und eine Schaukel. Aber jetzt, wo sie aus dem Haus sind, ist er ein Quell der Freude für ihn. In seinem Viertel ist er längst bekannt als der Hobbygärtner mit den schmackhaftesten Tomaten und Gurken und schönsten Pfingstrosen. Er liebt es, etwas wachsen zu sehen, zu gestalten, zu formen, zu produzieren. Und zu wissen, dass man etwas Sinnvolles tut, etwas, das einen gut nährt. Essen zuzubereiten hat für ihn dadurch einen anderen Wert bekommen, ist wichtiger geworden, aber vielleicht ist das ja auch eine Frage des Alters. Das beobachtet er auch bei seinen Freunden um ihn herum: die Freude aufs und am Essen. Am besten schmeckt ihm das im Garten selbst geerntete Obst und Gemüse, oder die Sachen vom Hofbauern ums Eck, bei dem er eine Jahresmitgliedschaft hat, und sich dafür einmal die Woche eine Kiste mit selbst produzierten Lebensmitteln abholt. Das macht er jetzt auch bei der neuen Kommunalbäckerei, dort kann er samstags sein eigenes Brot backen.
Wer keinen eigenen Garten hat, kann gute Lebensmittel im nahe gelegenen Dorfladen kaufen, oder eine Parzelle auf einer Dachterrasse pachten. Und wer seinen Kindern das Wachsen des Gemüses zeigen will, kann mit ihnen in die Produktionsstätten gehen, die natürlich riesig sind, aber vom Prinzip her wie sein Garten funktionieren. Oder man nimmt sie mit auf eine geführte Pflücktour durch Grünflächen und Wälder, da lernen sie aus Birkenbäumen Säfte abzuzapfen, Beeren, Blüten, Nüsse, Pilze zu sammeln, um was Leckeres draus zu machen. Rund herum gibt es kein Brachland, wo sich jahrhundertelang die Städte in die Landschaft gefressen haben, wuchert die Natur wieder stärker in die Dörfer und Städte. Wahre Fundgruben für Kräutersammler. Trotzdem ist er froh, sich für einen eigenen Garten entschieden zu haben. Selber machen, selber die Erde an den Händen fühlen oder die Gurke ernten, ja das hat für ihn etwas Kreatürliches.
Neulich hat er seine Chefin verfolgt. Er hat einfach mal wissen wollen, was sie macht, wenn sie so wichtig tut. Er arbeitet ja gerne, und sie ist auch eine gute Chefin: fördert ihn, bietet ihm an, sich weiter zu bilden, fordert nichts, was ihn unter Druck setzen würde. Es ist eine vernünftige Arbeit: Menschen abzusichern gegen die Unwägbarkeiten des Lebens – da fällt eine schöne geerbte Vase hin, da geht ein großer Spiegel zu Bruch, den man auf einem Antikmarkt gefunden hat oder das Rennrad ist nicht mehr zu reparieren.
Die Leute wollen immer noch, dass ihnen ihre Kleinode, ihre kleinen Freuden erhalten bleiben und er sorgt dafür, dass sie sich mit seiner Versicherung den Restaurator für die Vase, den Fachmann fürs Rennrad leisten können. Er mag es geradezu, wenn er zu einem Kunden gerufen wird, weil ein Schaden entstanden ist, er weiß ja, dass die Leute ihm dankbar sind, wenn er ihnen helfen kann. Eigentlich sind es weniger die Versicherungen als ein Netzwerk an Spezialisten, das er verkauft.
Die wirklich wichtigen Dinge, die Unbilden der Natur wie Krankheit, Wasserschäden, Stürme, auch Unfälle, die muss er nicht versichern – das war wohl bis vor 20, 30 Jahre noch so, aber heute wird keinem mehr der Boden unter den Füßen weggezogen. Wenn ein Schaden entsteht, der existenzgefährdend ist, sorgt der VS ja dafür, dass niemand verkommt.
Seine Chefin hat er verfolgt, weil er bei einem Kunden gesehen hat, wo sie wohnt. Er hat sich auch eingebildet, den Baum zu erkennen, den er manchmal hinter ihr auf dem Bildschirm sieht, wenn sie ihre Feedback-Gespräche haben. Ein riesiger Kastanienbaum, wie es ihn kaum noch gibt. Es war einfach eine gute Gelegenheit. Sie hatte wieder diesen Gesichtsausdruck, so verschlossen und wichtig, und sie ging in eines der Gebäude des VS. Er hätte es wissen müssen, dass sie mit dem VS zu tun hat. Sie wirkt immer so wohlwollend, aber er hat immer schon eine Spur Herablassung dahinter gesehen, ohne dass er es sich eingestanden hat. Und die Wohnung mit dem Blick auf den Kastanienbaum hatte auch immer etwas Steriles, wie ein Showroom für moderne Möbel.
Seiner Frau hat er nichts gesagt. Sie würde ihn anschauen mit der Frage im Gesicht: Und? Was ist daran erzählenswert? Es ist ja klar, dass es den VS gibt, wer soll sonst für sie alle sorgen? Und dass seine Mitglieder irgendwie anders leben müssen als er, seine Familie, seine Nachbarn. Es ist eine furchtbare Verantwortung, das Wohlergehen aller zu sichern. Es gibt Studien, die belegen, dass die Mitglieder des VS eine kürzere Lebenserwartung haben. Es ist auch bekannt, dass sie keine Freizeit haben, dass sie eine harte Ausbildung durchlaufen haben, da ist nix mit Hobbygärtnern oder Tennisspielen oder sich täglich mit den Kindern unterhalten.
Sie müssen immer das „Große Ganze“ im Blick haben und gleichzeitig bis in die kleinsten Verästelungen planen. DAS sollte man mal versichern. Aber dazu bräuchte man Einblick. Es wäre mal richtig interessant und je mehr er darüber nachdenkt, desto spannender findet er den Gedanken, in den VS einzusteigen, zu verstehen, zu analysieren, wie das alles zusammen hängt, sein Leben mit dem der anderen, seine Arbeit mit der der Sanitäter oder Bauarbeiter. Vielleicht könnte er sogar etwas verbessern? Nur was?
Er möchte zeigen, dass man ihm nicht mit Herablassung begegnen muss, sei sie noch so gut verhehlt. Aber er beklagt sich nicht, bei näherer Betrachtung ist es ja doch besser, sich für das gute Leben zu entscheiden und den VS dafür sorgen zu lassen, dass ihm nichts passiert.
Auch für die Kinder ist es super: von Anfang an stellte der VS sicher, dass sie optimale Bedingungen erhalten – nicht besser und nicht schlechter als all die der Kinder um sie herum. Ein hervorragender Kindergarten, in dem die sprachliche Entwicklung gefördert wird, die ersten Schritte in Mathematik auf dem Lehrplan stehen und Tier-, Pflanzen- und Ernährungskunde für die Kleinen eine Selbstverständlichkeit ist. Unvorstellbar, dass es noch Kinder mit Karies gäbe wie in den Horrorszenarien, die immer wieder einmal von VS-Storytellern im Telekom erzählt werden.
Ja, seine beiden Töchter: als sie damals vom Kindergarten nach Hause kamen und erzählten, was sie alles so erlebt hatten, hatte er sich immer ganz entspannt zurückgelehnt – sie gediehen und entwickelten sich wunderbar normal. Wenn eine von ihnen mal mehr wollte, sich hervortun wollte, gab es sehr gute Empfehlungen des VS, wie man die Mäuse wieder auf die Spur bekam.
Aber meistens sorgte der Kindergarten eh dafür oder später die Schule. Unvorstellbar auch, dass ein Kind sich hervortut, womöglich noch mit Kenntnissen, die es nicht vom VS, sondern von den Eltern oder Großeltern hat. Einer seiner Nachbarn hatte sein Kind einmal „weitergebildet“, wie er es nannte, ihm eigenmächtig Dinge beigebracht. Seine eigenen Kinder waren verstört und empört: Wieso wusste es mehr als sie? Der VS nahm sich der Eltern an, das Kind war dann schnell wieder wie alle anderen.
Oder der kleine Bub, der dicker und dicker wurde, der zwei Straßen weiter wohnte – seine Eltern hatten ihm zu Hause Essen aus dem Untergrund gegeben, vermutlich Zucker oder Weißmehl, auf jeden Fall wurde auch da schnell interveniert. Schrecklich, was aus dem Jungen geworden wäre, wenn man die Eltern gelassen hätte. Sein Töchter sahen auch heute noch entzückend aus, waren gerade in Berufe eingestiegen, die ihren Fähigkeiten entsprachen und würden sicher bald ihren Partnern zugeführt werden.
Gestern hatte er eine Gänsefamilie beobachtet, ein Hund war auf sie zugelaufen und der Gänserich hatte empört und entschlossen seine Familie verteidigt. Das war irgendwie schön. Er liebte seine Töchter und die Vorstellung, sich für sie ins Zeug zu legen, für sie zu kämpfen, hatte etwas, was ihm die Tränen in die Augen trieb. Aber zum Glück hatte er das nie tun müssen. Es gab zwar offiziell keine stärkeren oder schlaueren Menschen als ihn, alle Menschen waren ja vom Prinzip her gleich, aber trotzdem hätte er es nicht drauf anlegen wollen. Aber auf dem Tennisplatz ist er ein richtiges Ass mit seiner starken Rückhand, da macht ihm so schnell keiner was vor. Seine Vorfreude auf das Match morgen ist groß, Aufschlag und Return. Ja, manchmal möchte er Bäume ausreißen.