Autor:innen: Ruth // Attraktor:innen: #4
Es ist eine zerstörerische Welt, in der viel Hektik herrscht. Es gibt einen Verteilungskampf durch Ressourcenknappheit. Alles ist digital. Dadurch wird aber auch die Population kontrolliert. Die gesellschaftliche Kluft wird immer größer.
Ein Tag im Leben von Georg, 35 Jahre, Down-Syndrom
Samstag, 08. August 2048 irgendwo zwischen Deutschland und der Schweiz
Georg malt Postkarten mit Tiermotiven, eigentlich hatte er noch nie etwas anderes gemacht, weil es für ihn nichts Schöneres gab. Seit der zweiten Klasse. Zuerst malte er nur für Jennifer. Über die Jahre waren sie richtig dicke Freunde geworden, Jennifer und er, und wenn er es sich recht überlegte, war sie seit dem Tod seiner Großmutter sein Lieblingsmensch. Das war lange bevor seine Eltern und sein großer Bruder auf der A3 ums Leben kamen, auf dem Heimweg nach Frankfurt.
Die Ärzte nannten es ein Wunder, dass es zwei Überlebende gab: Georg und seine kleine Schildkröte Tschamaka. Es war der 13. März. Es war sein Tag und Georg hatte darauf bestanden, nach Duisburg in die größte Zoohandlung der Welt zu fahren. Und weil es sein Geburtstag war, ließen sich die Eltern überreden, die 500 Kilometer auf sich zu nehmen. Eine Eule, sein Lieblingstier, sollte er nicht bekommen, aber eine kleine Schildkröte, die uralt werden konnte. Es war eine lange Fahrt, dunkel war es und ein dichter Schneesturm, erinnerte sich Georg, oft auch im Schlaf.
Nichts war mehr wie es einmal war.
Ab jetzt lebte er auf dem Land bei seiner Oma, die ihm einen Tschamaka-Rucksack aus Leder nähte. So war die kleine Schildkröte immer dabei, egal, was er unternahm, egal wohin er ging, mitsamt einer kleinen Wasserflasche, ein paar Blätter Löwenzahn, Brennessel und Feldsalat, die Lieblingsspeise seiner kleinen Schildkröte. Obwohl es wirklich immer schwieriger wurde, Futter auf den Wiesen und Feldern zu finden, ging er ungern in die edle Tierhandlung ums Eck. Kräuter und Gemüse für Tiere war so was von teuer! Das war unfair, weshalb er dort auch nur im äußersten Notfall einkaufte, nämlich dann, wenn wieder einmal der Strom für sein kleines Gewächshaus auf dem Balkon länger ausfiel und alle Pflanzen in Nullkommanichts vertrockneten.
Er lebte im ersten Stock eines der vielen schmalen Hochhäuser in einem alten Stadtviertel, in dem es früher viele Parks, einen See und zwei Bäche gegeben haben musste. Er lebte gerne hier. Die Wohnung hatte Walter für ihn gekauft, wie alles andere, was er wollte oder brauchte. Er habe ja alles, sagte er immer wieder zu Walter, dem Schulfreund seiner Eltern, der sich rührend um ihn kümmerte. Geld hatte Georg genug durch das Erbe seiner Eltern. Und Walter schien ein cleverer Mann zu sein, denn das Geld wurde aus irgendeinem Grund immer mehr anstatt weniger. „Rüstungsindustrie und Gentechnologie seien die Schlüsselwörter für seinen Erfolg“, hatte ihm Walter einmal verraten. Den Rest hatte er nicht verstanden.
Georg hatte das Down-Syndrom. Hier und da schränkte ihn das auch ein, aber eigentlich führte er ein ganz normales Leben. Menschen mit Down-Syndrom, stand in dem Buch, das ihm auf dem Flohmarkt aufgefallen war, weil ihm vom Cover ein junges Mädchen mit einem rundem Gesicht entgegenstrahlte. Menschen mit Down-Syndrom sollen öfter Schwierigkeiten mit feinen Bewegungen haben, aber er konnte Zeichnen und Kochen wie kein anderer. Ja, manchmal hörte er auch ein wenig schlecht, aber vor allem bei älteren Menschen, deren Stimme schon zart und leise war oder krächzend wie ein Rabe. Und er brauchte eine Brille. Eine starke. Er konnte auch nicht so lange vor dem Bildschirm sitzen wie andere, aber das machte nichts, weil er mit Robot zusammenlebte, der ihm oft die Arbeit am Computer abnahm und ihm alles vorlas. Sogar die Tastatur konnte er bedienen. Manchmal sprach Georg mit Absicht ganz schnell, damit Robot etwas falsch verstand und dann irgendein kauderwelsches Zeug vorlesen musste. Da schüttelte es ihn vor Lachen, dass ihm manchmal sogar der Bauch weh tat.
Einen Robot H02 für den Haushalt hatte er auch schon. Jennifer nannte ihn ihren „little friend“. Jeden zweiten Tag brachte er H02 für ein paar Stunden in den fünften Stock zu ihr. Die Kunst des Treppensteigens hatten sie wohl bei seiner Programmierung übersehen. Nicht, dass Jennifer ihn dringend gebraucht hätte. Nein, in ihrer Wohnung war alles picobello, aber sie freute sich jedes Mal wie ein kleines Kind, sobald H02 mit dem Staubsauger durch ihre Wohnung fegte. Früher wollte er noch alles selbst machen, aber die Produkte der Firma ETH Zürich waren gut, machten vieles einfacher, schneller und manchmal auch besser. Auch darum kümmerte sich Walter.
Seit der zweiten Klasse malte er nun schon Tiere, und seit seinem 16. Geburtstag auf Postkarten, die ihm Oma geschenkt hatte. Er wollte auch gar nichts anderes machen, als die Welt zu entdecken, Tiere zu beobachten und die schönsten unter ihnen auf Papier zu bringen, dachte er. Den Stein ins Rollen brachte Jennifer, die Tiere schon als Kind viel lieber hatte als Menschen, als sie ihn darum bat, doch bitte die Tierwelt in Bildern festzuhalten. Sie wurde immer ganz kribbelig bei dem Gedanken, dass es einige von ihnen in ein paar Jahren nicht mehr geben könnte, dass sie aussterben und dann niemand mehr ihre Schönheit und Einzigartigkeit bewundern konnte.
Wie Recht sie doch gehabt hatte, die meisten Tiere auf seinen zigtausenden Postkarten gab es heute schon nicht mehr. Ausgestorben, weil es keinen Lebensraum gab. Rauchende Müllberge statt den sattgrünen Wiesen seiner Kindheit, an die er sich so gerne erinnerte. Die Wiesen und Felder, auf denen er mit seinem großen Bruder Fangen spielte. Einfach weg, mit Häusern besetzt oder mit einer Decke aus Müll überzogen. Oder sie waren riesige Areale, gesichert durch eine Hundertschaft an Wachpersonal, auf denen Tiere gezüchtet, getötet und dann aufgegessen wurden. In einem uralten Magazin hatte er einmal ein Foto eines Wissenschaftlers entdeckt, an dessen Wände unzählige Glaskästen mit aufgespießten Faltern hingen. Ganz vergilbt. Wie war dieser Mann nur auf so eine dumme Idee gekommen? Einen Schmetterling aufspießen und an die Wand hängen? Das war absurd und unanständig.
Deshalb freuten sich die Menschen wohl so sehr über seine Tierpostkarten. Zumindest einige von ihnen, die meisten waren viel älter als er und kannten ganz oft noch die Namen seiner gemalten Tiere. Endlich wusste er jetzt auch wie der in den USA heimische Singvogel hieß, den die Amerikaner Painted Bunting nannten: Papstfink. Ein schöner Name. Das hatte ihm erst vor ein paar Tagen eine Dame verraten, die zufällig neben ihm auf „seiner“ uralten Steinbank saß. Der Papstfink sei ein äußerst scheuer Vogel und die Männchen so anziehend und farbenprächtig wie kein anderer. Der Kopf in einem wunderschönen Blau, einem Indigoblau, abrupt in einen limonengelben Rücken übergehend, an den Flügeln und am Schwanz dunkelgrün und auf der Unterseite leuchtend rot gefärbt.
Ein Strahlen huschte über das Gesicht der Dame, weil doch alles, was bunt war, die Welt ein bisschen schöner machte. In der heutigen Zeit würde das aber keiner mehr sehen, nicht nur wegen des ständig grauen Himmels und des fehlenden Grüns. Die Menschen hasteten von A nach B, schenkten weder den anderen noch der Umgebung einen Blick. Wie bedauerlich das doch sei... Als Georg ihr einen ganzen Stapel Tierpostkarten in die Hand drückte und einige Faber Castell-Stifte dazu, denn zum Ausmalen waren auch ein paar Postkarten dabei, füllten sich die Augen der netten Dame mit Freudentränen. Jetzt freute auch er sich wie damals an seinen Geburtstagen, an denen er viele Geschenke auspacken und sofort an seine Freunde weiter verschenken durfte. Jedes Lächeln, das er auf die Gesichter der Menschen zauberte, beglückte ihn. Ja, er war ein richtiger Zauber.
Die nette Dame trug einen abgetragenen Trenchcoat und hustete so stark, dass Georg sie zu einem Arzt begleiten wollte, was sie dankend ablehnte. Sie könne sich keinen Doktor mehr leisten seit die Rente um fünfzig Prozent gekürzt und die Krankenversicherung für Menschen über 50 aufgelöst worden war. Auch die Geldscheine, die zufällig in seiner Hosentasche steckten, könne sie nicht annehmen, aber sie würde sich sehr gerne noch weitere Tierpostkarten anschauen. Auch den seltenen Morpho-Schmetterling erkannte sie sofort. Sie sei bis in die Zwanziger Jahre Biologielehrerin gewesen, erfuhr Georg, und lauschte ihren Erzählungen aus vergangenen Schulzeiten. Damals mussten die Kinder noch jeden Tag in die Schule gehen und mucksmäuschenstill über mehrere Stunden auf harten Stühlen sitzen.
Apropos Himmelsfalter. Georg erinnerte sich noch ganz genau an diesen Moment, als er den Himmelsfalter mit seinen leuchtend blauen Flügeloberseiten in der Toskana auf einem Schmetterlingslosbaum entdeckt hatte. Ganz schwer zu sehen, Blauton auf Blauton. Sogar die Blütenblätter sahen von weitem aus, als flatterten hunderte von Schmetterlingen um einen Strauch. Heute gab es keinen einzigen Schmetterling mehr, weit und breit. Nicht einmal einen Zitronenfalter hatte er im letzten Jahr gesehen.
Besonders stolz war Georg auf seine Sammlung „Im Land der Phantasie“. Die Nachbarskinder, die Zwillinge Joy und Mary, die ihn auch auf die Idee einer Postkarte zum Ausmalen gebracht hatten, wünschten sich jetzt ein Suchspiel von ihm. Er solle die Tiere doch in einer bunten Landschaft verstecken, hinter einem Baum, in einem Haus oder einem Fluggerät. Die Kinder freuten sich und er freute sich, und er malte und malte, ohne das Haus zu verlassen, mehrere Tage und Nächte. Er malte die schönsten Tiere in den verrücktesten Umgebungen und dachte sich die schwierigsten Verstecke aus. Einen Himmelsfalter versteckt in einem Schmetterlingslosbaum malte er natürlich auch.
Anfangs hatte er die Packung mit 20 Stück an alle Menschen verschenkt, die ihm begegneten und schon lange kein Lächeln mehr auf den Lippen hatten. Das konnte er schon von weitem sehen, weil sie das Schlendern verloren hatten. Ja, es war vielmehr ein Schlurfen, manchmal sogar ein Humpeln, mit denen sich die Menschen traurig und hölzern auf den Straßen und Wegen fortbewegten, ohne dass sie ein ersichtliches Leiden hatten oder ihnen etwas weh tat. Ganz im Gegensatz zu den vielen anderen, den jungen und gesunden Menschen, die in ihren grauen und blauen Anzügen und Kostümen Tag für Tag aus der U-Bahn-Station auftauchten, im Zickzack dem stehenden Verkehr ausweichend und schnellen Schrittes in einem der gläsernen Prunkpaläste verschwanden, den Blick ständig auf eines der Smartphones gerichtet, die sie alle um den Hals trugen. Manchmal zog es ihn auf seinen Spaziergängen auch in die Stadt, dann blieb er vor den verspiegelten Fassaden stehen, grinste, posierte und schnitt Grimassen. Manchmal schenkten ihm die Menschen Geld und er schenkte ihnen dafür Tierpostkarten und ein Lächeln.
Ja, er ging jeden Tag spazieren, am liebsten in „seinem“ Viertel, das er gut kannte. Auf den Steinbänken saßen nur noch Menschen, die kein Zuhause mehr hatten, und er mit Tschamaka. Zwischen den unzähligen Plastikflaschen und Konservendosen fand er auf der verbrannten Erde doch immer wieder ein klitzekleines grünes Plätzchen. Er setzte sich zu zwei älteren Herren, strahlte sie an und fing an zu erzählen. Morgen ginge es los, mit seiner Freundin Jennifer nach Südamerika. Mehr als vier Monate hätten sie auf der Warteliste für einen Flug nach Santiago de Chile gestanden, und immer wieder sei die Meldung aufgetaucht: „Wir bitten Sie um etwas Geduld, bis auf weiteres sind alle Flüge ausgebucht“. Wie konnte das denn sein, fragte Georg, bei den vielen Fliegern, die Tag und Nacht unterwegs waren? Sie blickten zum Himmel, der heute ausnahmsweise mal zu sehen war, und betrachteten das akkurate Schachbrettmuster, das die Kondensstreifen, die langen, dünnen, künstlichen Wolken, die Flugzeugen immer folgten, in den Himmel zeichneten.
Georg zog ein paar seiner Postkarten aus dem Rucksack und zeigte sie ihnen, während einer der beiden von Rex erzählte, dem besten Schäferhund der Welt. Damals sei alles anders gewesen, in Baierbrunn, einem kleinen Bauerndorf mit nicht mehr als hundert Einwohnern, einer Dorfschule, einem Dorfladen und einer kleinen Barockkirche. Tränen liefen über sein Gesicht, als er vom Tod seiner Freunde, seiner Arbeitskollegen und seiner Familie und vom langsamen Verfall seines Hofes erzählte. Alle Opfer der Pandemie. Als dann auch noch Rex von einem Jäger erschossen wurde, habe er sich auf den Weg in die Stadt gemacht. Er hatte alles verloren und es gab nichts mehr, das ihn in Baierbrunn gehalten hätte. Außerdem hätte ihn das Leben ohne Strom und Heizung krank gemacht, schwer krank. Bei der letzten Lungenentzündung sei er dem Tod, den er sich doch so sehr wünschte, noch einmal von der Schippe gesprungen. Er wäre auch lieber tot als in dieser Stadt vor sich hinzuvegetieren, stimmte ihm sein Freund zu. Längst sei wohl auch der kleine Bach, der einst durch seine Wiese plätscherte, genauso versiegt wie die Fontänen dieses Springbrunnens. Seine Hand zitterte, als er in die Richtung zeigte.
Georg berichtete ihnen von seinen vielen Reisen und den vielen Tieren, die er dabei entdeckt hatte, von den lustigen und traurigen Geschichten, die ihm die Menschen erzählten, von den Düften auf Sansibar, der Frühlingspracht in Neuseeland und vom Indian Summer in Vermont. "Genau!", sagte der Herr in der grauen Wolljacke, er könne sich noch sehr gut an die „Altweibersommer“ in seiner Heimat erinnern. Wie schön diese Jahreszeit doch war: „Es beginnt immer mit einer leichten Verfärbung der Spitzen. Und dann dauerte es nicht mehr lange und das saftige Grün der Blätter verwandelte sich in ein richtiges Laubfeuer aus Gelb, Orange, Hell- und Dunkelrot. Irgendwo passiert das sicher noch jedes Jahr.“, sinnierte der alte Mann. Nach einer halben Stunde verabschiedete sich Georg, drehte sich immer wieder um und freute sich, dass sie ihm nachwinkten, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
Ja, Wasser war knapp und kam nur noch rationiert aus dem Wasserhahn. Seit etwa fünf Jahren gab es pro Person in einem Haushalt nur noch eineinhalb Liter pro Tag, Alleinstehende hatten zwei Liter zur Verfügung. Badewannen, ein Relikt aus Zeiten des Überflusses, hatten ausgedient, zum Duschen ging Georg ein bis zweimal die Woche ins Gemeindebad. Je nachdem. Dann klimperten die Münzen in seiner Hosentasche. Dass man vor dem Duschen eine Münze einwerfen musste, kannte er vom Campingplatz, auf dem er mit seinen Eltern und seinem Bruder oft die Ferien verbracht hatte. Wer mehr Wasser, als die vorgeschriebene Menge wollte, konnte es für sündteures Geld bei Aquanaut kaufen, das dann in großen Bottichen nach Hause geliefert wurde. Georg nahm sich fest vor, Jennifer von seiner Begegnung mit den beiden älteren Herren zu erzählen.
Jetzt aber musste er sich auf die Reisevorbereitungen konzentrieren. Als er vorgestern die Tickets in seinem Mailordner gefunden hatte, lief er zwei Stufen auf einmal nehmend in den fünften Stock und donnerte mit der Faust gegen Jennifers Türe. Sie solle sofort die Koffer packen, Abflug sei morgen um 06:45 Uhr und sie solle ja nicht die Bergstiefel vergessen, da sie doch einen Dreitausender erklimmen wollten, rief er ihr noch zu. Er durchwühlte Schränke und Kommoden und auch die Abstellkammer, warf alles, was ihm wichtig erschien aufs Bett – für Jennifer, die auch dieses Mal seine Koffer packen würde. Er wunderte sich, wie sie immer irgendwie schaffte, alles zu verstauen, und beneidete sie ein ganz klein wenig, weil sie so ordentlich und gewissenhaft war. Bei ihr hatte alles seinen Platz. „Sicher legt sie ihre Pullover, Hemden und Unterwäsche mit Hilfe eines Lineals zusammen“, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf.
Robotik brachte ihm eine große Box mit neuen Aquarellstiften, ein paar Pinsel und einen Satz leerer Postkarten. Als er seine Freundin vor langer Zeit zum ersten Mal in der Wohnung ihrer Eltern besucht hatte, war er so von den wachen Augen einer kleinen Stoffeule fasziniert, dass er auf einen Stuhl stieg und sie gerade aus dem Regal nehmen wollte, als Jennifers Stimme plötzlich ganz schrill wurde: „Lass sofort deine Hände von Hedwig, sonst kannst du gleich abhauen und brauchst nie wieder zu kommen!“ Vor lauter Schreck fiel er vom Stuhl. Seitdem bewegte er sich ganz vorsichtig in ihren vier Wänden.
Vielleicht traf er ja in der chilenischen Sky Airline die hübsche Stewardess wieder, die so freundlich zu ihm war, mit ihrem langen gewellten Haar und den schokoladenfarbenen Augen. Extra für sie legte er noch eine Tafel seiner Lieblingsschoko neben den ganzen Wust auf seinem Bett. Manchmal könnte er Bäume ausreißen. Ganz besonders, wenn eine Reise bevorstand. Er freute sich, dass Jennifer wieder dabei war. Sie war zwar ein bisschen zaghaft, ja sogar verstört, wenn sie unter Menschen musste. Dass sie sich vor etwas fürchtete, konnte er spüren, und manchmal blieb sie kreidebleich wie angewurzelt auf der Stelle stehen. Es hatte lange gedauert, bis er verstand, dass er sie einfach an die Hand nehmen und weiterführen musste. „Menschen machen mir Angst, ich mag ihre Nähe nicht“, gestand sie ihm eines Tages mitten auf der überfüllten Konstabler Wache.
Jennifer und er gingen durch die Drehtür in die Abflughalle, als aus heiterem Himmel ein junger Mann im dunklen Nadelstreifenanzug vor ihm stehen blieb, mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, den Kopf schüttelnd, um dann einen großen Bogen um sie beide zu machen. Ja, manchmal spürte auch er so etwas wie Angst. Wie jetzt. Manchmal, wenn ihm Menschen von Touchdown21 erzählten, wenn sie ihn so komisch anstierten, die Stirn runzelten, einmal hatte ihn ein junger Mann in Uniform sogar angeschrien „Hau ab, du Mongo!“, bevor er ihn zur Seite schuppste. Seine Mutter hatte immer die richtigen Worte, um Georg die Welt und ihre Zusammenhänge zu erklären. „Weißt du, es gibt Menschen, die dein Gesicht einfach charmant finden. Vor allem, wenn du lachst“, hörte er sie sagen. „Weil dein Gesicht einzigartig ist, mein lieber Schatz.“ Das Buch mit dem strahlenden Mädchen offenbarte ihm noch eine Besonderheit: Er gehörte nämlich zu den wenigen Menschen die das Chromosom mit der Nummer 21 nicht nur zweimal, sondern sogar dreimal in sich trugen. Das machte ihn wirklich einzigartig, denn er hatte noch nie in seinem Leben einen Menschen getroffen, der ein so schönes rundes Gesicht wie er hatte und noch dazu dreimal die 21.
Angst machte ihm auch Lärm, den er manchmal hörte, egal, in welchem Land er unterwegs war. Weit weg zwar, aber doch irgendwie bedrohlich nah. Das seien Trommelfeuer und Explosionen, hatte ihm ein Beamter mal bei der Einreisekontrolle an der deutsch-tschechischen Grenze erklärt, als er bei einem lauten Knall zusammengezuckte und sich die Ohren zuhielt. Er müsste das doch wissen, dass sich in manchen Gebieten Gruppen von Partisanen einen heftigen Kampf mit den alliierten Streitkräften lieferten. Georg hatte keine Ahnung, von was er sprach und wer warum mit wem kämpfte. Aber einen Rat des freundlichen Grenzbeamten hatte er sich zu Herzen genommen: „Sobald du merkst, dass der Kriegslärm immer lauter wird, dann läufst du einfach solange in die entgegengesetzte Richtung bist du nichts mehr hörst!“ Genau das tat er und genau das würden Jennifer und er jetzt auch in Chile tun. Er mochte es überhaupt nicht, wenn Menschen miteinander stritten oder kämpften, das war schon in der Schule so. Dann versteckte er sich unter dem Tisch, oder noch lieber im Schrank und wartete dort bis alles wieder still war. Am besten gingen sie bei ihren Entdeckungstouren einfach allen Menschen aus dem Weg und suchten nur abgelegene, stille Plätze auf, an denen sie dann ganz ungestört mit Printcamera und Faber Castell-Stiften die schönsten Tiere der Welt festhalten konnten. Ja, darauf freute er sich. Mit Jennifer konnte er stundenlang, wortlos an einem Ort verweilen, fotografieren, schauen und staunen und malen. Ganz in sich versunken. Glücklich und zufrieden. Er lächelte.