Autor:innen: Dorothee // Attraktor:innen: Lena
Über eine Emigrantin aus den Niederlanden, die im Meer versunken sind, über Natur und Beton, über ausgeklügelte Gemüse-Anbaukonzepte in Dachstühlen und eine Frau, die durch ihre Vision in Ebersberg soweit Fuß gefasst hat, dass sie es politisch ganz weit bringen wird
Emma Johanna saß auf den noch warmen Stufen im Innenhof. Es war Abend geworden und ihre Mitbewohner hatten sich gerade zurückgezogen. Die Sonne blitzte ein letztes Mal zwischen den gegenüber liegenden Häusern auf, bevor sie langsam in der Abendröte versank. Emma Johanna erinnerte sich an ihren 25. Geburtstag. Seitdem waren nun schon 10 Jahre vergangen. Sie konnte es manchmal nicht glauben, was alles geschehen war, seitdem sie und ihre Eltern mit dem Lilium-Jet in Ebersberg gelandet waren. Das Leben in ihrer alten Heimat, der Niederlande, war nur noch anstrengend und stressig gewesen. Auch wenn sie das Land liebte, war es schwer gewesen mit anzusehen, wie immer mehr Landfläche im Meer verschwand und große Bauprojekte initiiert wurden, um Wohnraum in der Höhe und Tiefe zu konzentrieren.
Hätten sie nach ihrer Ankunft in Ebersberg nicht in der Baumlodge im Wald gewohnt und Sepp geholfen, den Wald vor dem aubardischen Mehlfaulpilz zu retten, hätte sich vielleicht alles anders entwickelt. Es hatte sich damals schnell gezeigt, dass Emma Johanna, ihre Eltern und Sepp auf einer Wellenlänge lagen. Oft saßen sie zusammen, tauschten sich über die Vergangenheit aus und spannen Visionen über eine bessere Zukunft. Eine Zukunft, in der man den Menschen wieder in die Augen schauen konnte, weil diese sich ohne Navigation with Fiction Shield orientieren konnten und bereit waren, ihren Umweltsimulator zur Seite zu legen, um aus der virtuellen Traumwelt in die Realität zu treten. Angetrieben von ihrem Wunsch nach mehr Menschlichkeit, De-digitalisierung und einer neuen Nähe zur Natur hatten sie ihre Vision Realität werden lassen und ein neues Wohnviertel in Ebersberg errichtet. Es war ein großer Wohnkomplex, in dem alle Generationen zusammen kamen, miteinander lebten und sich autark versorgten. Es gab Wohneinheiten, Workspaces, Spiel-, Lern- und Rückzugszonen. Das Arbeitsleben war in den natürlichen Tagesablauf integriert, Arbeit wurde nicht an Zeit gemessen, sondern am Ergebnis und durch das verbindliche Freizeitkonto gab es eine gesunde Balance zwischen Beruf und Privatleben.
Aufgrund der langen Trockenperioden war der Grundwasserspiegel in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken. Wenn es regnete, dann staute sich das Wasser in den Senken sehr schnell an, die Täler überfluteten daher ein- bis zweimal im Jahr. Dies hatte dazu geführt, dass sich der Wohnraum in Ebersberg immer mehr auf die Hügel verlagert hatte. Aufgrund der Wasserknappheit gab es des Öfteren Spannungen mit den Nachbargemeinden und nicht alle waren damit einverstanden, Wasser für die Erhaltung des größten zusammenhängenden Waldgebietes in Deutschland – dem Ebersberger Forst – einzusetzen. Emma und Sepp hatten daher mit viel Tüftelei ein ausgeklügeltes Ressourcen- und Recycling-System für den Wohnkomplex entwickelt. Die Dächer der Häuser bestanden aus zwei Lagen Glas in deren Zwischenraum Salat und Gemüse wuchs. Die Blätter absorbierten das Sonnenlicht und dienten als natürliche Isolation. Das Kondenswasser wurde aufgefangen und in den Wasserkreislauf zurück gespeist. Abwasser wurde durch eine raffinierte Filteranlage wieder aufbereitet und übrige Biomasse wurde auf einer etwas ausgelagerten kleinen Insektenfarm verarbeitet. Die Insekten dienten als Grundlage, um proteinreiches Mehl herzustellen. Die Häuserfronten waren mit Solarzellen versehen und konnten die Energieversorgung des Wohnkomplexes decken.
Unter den Kindern in den Nachbarvierteln hatte es sich mittlerweile herumgesprochen, dass es eine Bibliothek mit echten auf Papier gedruckten Büchern gab. Emma Johanna hatte es das Herz gebrochen zu sehen, wie sehr sich schon die Kleinsten mit ihrer digitalen Identität identifizierten. Als gelernte Grundschullehrerin hatte sie daher ÖMI gegründet, eine Klasse für Ökologie, Menschlichkeit und emotionale Intelligenz. Hier konnten sich die Kinder physisch austoben und im Dreck wühlen. Sie halfen auf Emmas Lupinenfeldern, die sich wie ein blaues Meer zwischen den Ebersberger Wohnvierteln erstreckten. Mit viel Liebe und Geduld lehrte sie die Kinder, hinter die Fassade ihrer Mitmenschen zu sehen und ihnen mit einem warmen Herzen zu begegnen. Aufgrund der veränderten Klimabedingungen hatte sich die Gemeinde entschieden auf den Freiflächen Lupinen anzupflanzen, da diese gut mit Trockenheit und Hitzeperioden zurechtkamen. Außerdem konnten sie die Samen ebenfalls als wichtige Eiweisquelle nutzen.
Emma war froh an Ihre Vision geglaubt zu haben. Es hatte seine Vorteile in dem autarken Mehrgenerationenkomplex zu leben. Das Reisen und Verkehrsmittel im Allgemeinen hatten sich technologisch so rasant weiterentwickelt, dass man sich ein Auto oder einen Jet nur als Gemeinschaft leisten konnte. Noch vor 30 Jahren hatte das Land große Autobahnen und Supermärkte gebaut, um das Münchner Umland besser mit dem gesamten Ballungsraum zu vernetzten. Doch durch zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt, hatte sich das Leben immer stärker in den ländlichen Raum verlagert. Was blieb, waren kilometerlange Geister-Straßen und verfallene Einkaufzentren. Viele störten sich an diesen Relikten aus der Vergangenheit, doch der Rückbau wäre ein Millardenprojekt.
Heute, an ihrem Geburtstag, war Emma mit etwas Besonderem überrascht worden. Die Ebersberger hatten sie mehrheitlich zu Ihrer neuen Bürgermeisterin gewählt! Darüber freute sie sich sehr und sie hatten schon so viele neue Visionen, die sie umsetzen wollte.
Doch für den heutigen Abend war es Zeit schlafen zu gehen. Die Sterne funkelten schon am Himmel und Emma Johanna begann allmählich zu frösteln.