Autor:innen: Johanna // Attraktor:innen: #3
Bestimmte Gruppen erfahren eine totale Abschottung (Senioren, Kranke, Pflegebedürftige, Menschen mit Behinderung). Es gibt weder eine emotionale noch eine soziale Fürsorge oder therapeutische Begleitung. „Du bist nur noch eine Nummer."
Ein Tag im Leben von Anna, 30, weiblich, Ingenieurin.
Mittwoch, 21. Februar 2080 irgendwo im Süden Bayerns.
Wie jeden Morgen sitzt Anna um Punkt 8:00 Uhr an ihrem Schreibtisch, im Homeoffice. Aufgerüstet mit smarten Laptops, Displays an den Wänden, Handys, 3-D-Druckern und LightSystem, natürlich alles mit höchster Cybersecurity. Laut ihrem Chef soll die Lichtfarbe ja eine entscheidende Rolle für die Produktivität spielen, blaues Licht aktiviert den Wachheitsgrad und rötliches Licht die Entspannung. „Also Rot bitte nur abends einschalten!“, hatte er eindrücklich bei der Einführung in die Beleuchtungskunst betont.
Schon lange hatten Konzerne keine Büros mehr für ihre Belegschaft, schon gar keine Großräume, in denen es Schwebewände statt Türen gab und der Lärm ähnlich laut wie in einer Fabrikhalle war, ein Gewirr aus Stimmen, Druckern, Telefonklingeln. Präsenzkultur – was für ein sperriges Wort aus der Vergangenheit. Wer beim Arbeiten am Schreibtisch sitzt, der sitzt zu Hause.
Nur selten geht Anna zu ihrem Arbeitgeber, um im Future Tank aufzutanken oder für ein neues Projekt in Co-Working-Spaces zusammenzukommen. Das passiert immer dann, wenn Teambuilding-Maßnahmen über Virtual Reality nicht richtig funktionieren. „Es gibt eben doch noch Situationen, in denen man sich persönlich begegnen muss, um effizient zusammenzuarbeiten“, erkennt Anna. Solche Momente der Begegnung konnten in der Arbeitswelt allerdings schon bis auf durch-schnittlich 20 Stunden im Jahr reduziert werden. Die meisten haben ihre Auftraggeber noch nie gesehen und noch nie mit ihnen telefoniert. Aus beruflichen Gründen das Haus zu verlassen, ist längst out. Anders sieht es nur noch in der Forschung aus. Die Sorge über die ständig neuen Pandemien hat die Menschen fest im Griff.
In ihrem Remotejob tauscht sich Anna jeden Tag maximal fünfzehn Minuten mit ihren Teamkollegen über das anstehende Projekt aus. Einem schnellen Update zum Stand der eigenen Arbeit folgt eine kurze Prüfung von Struktur und Änderungsanträgen, danach werden neue Arbeitspakete geschnürt. Dabei vermeiden sie zu viel Gerede, um produktiv an ihren Aufgaben weiterarbeiten zu können. Ansonsten läuft alles online oder virtuell ab.
Ihr Mittagessen bestellt sich Anna immer per Knopfdruck und isst es, während sie ihr Profil auf der Partnerbörse checkt. Sie ist jetzt 30 Jahre alt und wünscht sich einen Partner, mit dem sie genetisch matcht und der ebenfalls so bald wie möglich eine Familie gründen möchte. Dabei ist es ihr ganz wichtig, dass die Beziehung funktional gehalten wird, denn Emotionalität bringt das Leben durcheinander. Das klappt auch bestens in der Partnerschaft ihrer Nachbarn, die alle schon Kinder haben, und auch bei ihren Freunden Marlene und Marcus. Marlene erzählte ihr mal, dass ihr Sohn das i-Tüpfchelchen eines rundum gelungenen Lebens sei.
Kinder werden heute bereits in der frühkindlichen Erziehung stark durch individualisierte Lerneinheiten, ganz besonders im Bereich der Technik, gefördert. Die Bildungslandschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant verändert. Zum einen entfiel die Vorschulbildung in Form eines Kindergartens und dafür wurden Social Camps eingeführt, um sozialen Verhaltensproblemen und Lernschwierigkeiten vorzubeugen. Außerdem durchlaufen Kinder und Jugendliche ihre Schullaufbahn extrem schnell, weil das Unterrichtspensum von jedem selbst daheim gesteuert wird. Der Junge von Familie Schmid hatte sein Abitur schon mit 14 Jahren in der Tasche. Und dabei sollen ihm seine Eltern nur zweimal in Stochastik geholfen haben. Bewundernswert, findet Anna.
An manchen Tagen, wie auch heute, fühlt sich Anna ohne erkennbaren Grund unzufrieden, müde und irgendwie traurig. Deshalb sucht sie sich manchmal sogar mehrmals am Tag einen Coach auf einem der vielen YouTube Channels. Die überlieferten Weisheiten, Tools und kleinen Übungen sind ihre Motivationsschübe für den Tag. Falls das nicht hilft, ordert sie sich im Netz ein Rezept für ein bestimmtes Medikament, das sie dann auch gleich im Online-Shop erwirbt und in weniger als zehn Minuten erhält. Danach geht es ihr meistens besser.
Nach Feierabend skypt sie regelmäßig mit ihrer Mutter, die seit drei Jahren im Immanuel Kant-Seniorenheim wohnt, als Pflegefall. Ihr zweiter zerebraler Insult hat sie halbseitig gelähmt in den Rollstuhl katapultiert. Ihre Mutter weint viel und Anna ist verzweifelt, dass sie ihr nicht helfen kann, dass sie nicht bei ihr sein kann. Besuche sind weiterhin strengstens untersagt und werden mit hohen Geldstrafen geahndet. Das gilt sowohl für Krankenhäuser als auch in Seniorenheime.
Um letztlich doch noch den Kontakt zu Familienmitgliedern aufrecht zu erhalten, lädt das Seniorenheim jeden Sonntag um 14.30h zum virtuellen Kaffeekränzchen ein, zu dem sich alle Bewohner und auch deren Familien, Freunde und ehemalige Arbeitskollegen einklicken können. Das Immanuel Kant hat dafür extra eine Kooperation mit einem landesweiten Lieferservice abgeschlossen, der allen zugeschalteten Personen ein Stück zuckerfreie Sachertorte und je nach Wahl einen Becher Kaffee oder Tee mittels einer Drohne vorbeibringt, egal wo sie sitzen.
Im "Immanuel Kant"arbeiten deshalb auch nur noch wenige Pflegekräfte, die lediglich die Ausgabe von Medikamenten und die Systeme überwachen, und ein Techniker, der für die Systemstabilität verantwortlich ist. Das meiste erledigen Senior Robots, so auch alle handfesten Tätigkeiten und Routinearbeiten, was nicht nur enorme Kostenersparnisse bringt, sondern auch für eine gleichbleibend angemessene Pflegequalität sorgt. Zugleich werden die Insassen am Leben gehalten. Die Uni München hat mal ausgerechnet, dass Transcare-Roboter bis zu 500 Kilogramm täglich schleppen. Sie bringen Essen, liefern Wäsche, kümmern sich um Sterilgut und um vieles mehr, was vor Jahrzehnten noch von Menschen gemacht werden musste.
Auch für das Entertainment ist das Seniorenheim perfekt ausgestattet: Rund um die Uhr laufen überall, die Sanitärräume eingeschlossen, bewegte Bilder ohne Werbeunterbrechung – ein bunter Mix aus Wetterberichten, Sportereignissen, Naturfilmen, Musikclips, Nachrichten, Reisemagazine und Talkshows, generiert durch einen Algorithmus, der Alter und Interessen der anwesenden Bewohner analysiert.
„Zum Public Viewing wird jeden Samstag der Gemeinschaftsraum geöffnet, in den dann alle Patienten in Rollstühlen und Betten für zwei Stunden gebracht werden“, erzählt ihre Mutter unter Tränen. Da gebe es keine Ausnahme, ob man wolle oder nicht. Ganz so, als ob Fernsehen nicht einsam, sondern regelrecht glücklich macht. Es lenkt ab und lässt gerade die Menschen, die geistig noch fit aber körperlich eingeschränkt sind, an den gesellschaftlichen Themen teilhaben.
Anna erinnert sich, dass ihre Mutter außer zur Tagesschau den Fernseher nie eingeschaltet hatte. Sie liebte es, Reportagen im Radio zu hören oder mit ihren Hörbüchern in andere Welten zu tauchen. Wie schlimm es für sie sein muss, dass sogar auf den Zimmer der Bewohner klobige Flachbildschirme stehen, auf denen über Streamingdienste zum Einschlafen, zumindest solange bis die Medikamente wirken, alte Filme laufen. „Wohl auch eine Art Erinnerungskultur der Neuzeit“, schießt es Anna durch den Kopf.
Abends treibt Anna noch Sport via Onlinekurs bei Body&Mind, auch einer ihrer täglichen Motivationsbooster. Seit ihrer frühen Kindheit ist sie schon Mitglied für einen monatlichen Beitrag von 4 Bitcoins. Obwohl sie tagein tagaus immer wieder neue Ausreden erfindet, um sich heute mal vom Gym oder Bodyweight-Training zu drücken, ist der gesellschaftliche Druck und die Überwachung durch die Fitness App so groß, dass sie jedes Mal aufs Neue in ihre Sportklamotten von Nike springt und zwei Stunden schwitzt. Täglich Körper und Geist zu trainieren, ist ein fester Bestandteil der virtuellen Arbeitswelt.
Vor dem Einschlafen hält sie sich strikt an ihr Matching-Ritual: Im Bett liegend zieht sie sich ein Lernvideo über Selbstmarketing rein, womit sie ihr Profil auf den Partnerbörsen perfektionieren und mehr Klicks erreichen kann. Wann der Moment genau gekommen war, an dem sie sich zum ersten Mal dachte: „Ich wünsche mir ein Kind“, kann Anna nicht mehr genau sagen. Ihr Kinderwunsch hatte sich fast unbemerkt vom Irgendwann ins Jetzt geschoben. Die ersten Karriereschritte in dem internationalen Konzern waren genommen und ist der Kinderwunsch erst einmal geweckt, so sagen Psychologen und Coaches, sei er mit keinem anderen Wunsch vergleichbar.
Auch wenn die Fortpflanzungstechnik heute alle natürlichen Grenzen überwinden kann, möchte sie den klassischen Weg mit einem Partner gehen. „In der Familienplanung bin ich wahrscheinlich ein wenig altmodisch“, überlegt Anna. „Aber Kinder in die Welt zu setzen, entscheidet doch auch über die Zukunftsfähigkeit unserer Volkswirtschaft.“ Ja, Anfang des Jahrtausends war das noch anders. Ohne technische Empfängnisverhütung sei die Frage nach dem Kinderwunsch nur eine rhetorische gewesen, ohne Konsequenzen. Aber heutzutage beeinflussen andere Faktoren die Entscheidung für ein Kind, nicht ein glühendes Gefühl in der Magengegend oder der Sexualtrieb.
Sie schließt das Lernvideo und visualisiert vor dem Einschlafen den perfekten Mann zur Familiengründung. Ihre Großmutter hatte ihr einige Weisheiten mit auf den Weg gegeben. „Bei einer Visualisierung kommt es nicht so sehr auf das Bild an, liebe Anna, sondern auf das Gefühl, das du während der Visualisierung empfindest.“ „Auch wenn das Humbug sein sollte, es wird klappen“, mit diesem Gedanken taucht sie auch diesen Abend ab ins Reich der Träume.