Amaryllis

Ein Szenario aus dem Jahr 2061 mit den Achsen Wirtschaft & Soziales und Umwelt.

#Ebersberg, #Arbeitswelt, #Gemeinschaft & Gesellschaft, #Klima & Umwelt, #Schule & Bildung

Autor:innen: Manfred, Franziska // Attraktor:innen: Stefan

Faisals Entwicklung zur Wiederherstellung fruchtbarer Böden gefährdet Ebersberg. Wie geht die gespaltene Gesellschaft damit um und was können wir aus der Vergangenheit lernen?

Faisal wacht schweißgebadet auf. Seine alten Alpträume haben in den vergangenen Jahren deutlich nachgelassen, doch seitdem er an den Ort zurückkehren muss, an dem damals das Fürchterliche passiert ist, wird er wieder fast jede Nacht von einem Alptraum geweckt. 

Während er sich duscht und anzieht, wandern seine Gedanken zurück. Damals vor 20 Jahren hat er als junger Forscher gemeinsam mit Kollegen den Einsatz von sogenannten “Biobots” initiiert, in dem Gebiet rund um den Ebersberger Aussichtsturm. Sie sollten die Fruchtbarkeit der von einer rücksichtslosen Landwirtschaft völlig ausgelaugten Böden wiederherstellen. Außerdem erhoffte man sich, dass durch die Biobots deutlich weniger Wasser zum Anbau von Getreide und anderen Feldfrüchten notwendig sein würde, denn schon damals war das Wasser auch in diesen Breiten knapp geworden. Es schien die perfekte Lösung und zugleich der einzige Ausweg zu sein. Er hat kräftig für sein Projekt geworben damals beim Bürgerentscheid 2041 - und mit Erfolg. 95% stimmten für den Einsatz der neuen Technologie. Zuerst schien alles nach Plan zu laufen, doch dann mehrten sich die Anzeichen, dass irgendetwas nicht stimmte. Wie sich herausstellte hatten die Biobots einen Bug. Anstatt ihn fruchtbarer zu machen, zogen die Biobots alle Energie aus dem Boden. Als schließlich noch die Gefahr bestand, sie könnten auf den Menschen übergreifen wurde das Gebiet weiträumig als Gefahrenzone gesperrt. 

Seitdem hat Faisal versucht, irgendeine Möglichkeit zu finden, den Bug zu deaktivieren oder die Biobots ganz wieder aus dem Gebiet zu entfernen. Schließlich, vor ein paar Monaten hat er endlich eine Lösung gefunden und über den Winter soweit entwickelt, dass heute damit begonnen werden kann... 

Ein Piepsen seines holographischen Kommunikators (diese haben die bis dahin beliebten Smartwatches vor 30 Jahren abgelöst) reißt Faisal aus seinen Gedanken. Der autonom fahrende Cityshuttletransporter, den er für heute bestellt hat, steht vor dem Haus. Er schnappt sich noch schnell eine Flasche Wasser, dann steigt er ein und fährt los. Unterwegs sammelt er zuerst Jamila ein. Die ältere Dame, sie dürfte schon in den frühe Siebzigern sein, wartet bereits vor dem Antiquariat Otter, wo sie wie so oft sicher schon seit den frühen Morgenstunden sortiert, recherchiert, archiviert hat. Alte Bücher sind ihre Leidenschaft, aus Papier, wie man das bis in die 30er Jahre dieses Jahrhunderts noch hatte, manche sogar noch in Leinen gebunden. Sie hat Faisal auch damals auf den rettenden Einfall gebracht, als sie durch Zufall auf ein altes noch nicht digitalisiertes Buch über den Ritterstern gestoßen ist. Es war versehentlich bei den Weihnachtsbüchern eingeordnet gewesen. Die Amaryllis, wie sie auch genannt wird, ist eine hochgiftige Pflanze, die mit extrem wenig Wasser auskommen kann, auch auf kargen Böden wächst und noch ein paar andere Eigenschaften aufweist, die eine gute Ausgangsbasis zur Bekämpfung der Biobots versprachen. Und Faisal ist es tatsächlich mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz Ludwig, die als virtueller Berater in Landwirtschaftsfragen konsultiert wird, gelungen, die Amaryllis gentechnisch so zu manipulieren, dass sie die Biobots unschädlich machen kann.  

Jamila ist glücklich, dass heute endlich der große Tag gekommen ist, an dem die gentechnisch veränderte und in großen Mengen im Gewächshaus gezüchtete Amaryllis rund um den Aussichtsturm gepflanzt werden kann. Sie hat sich freiwillig gemeldet, bei der Pflanzung zu helfen, denn sie hat einen besonderen Bezug zu diesem Ort. Als junge Frau ist sie dort immer gerne mit ihrem Schatz spazieren gegangen, hier haben sie sich zum ersten Mal geküsst, und Jamila war immer traurig, diesen ehemals so schönen Platz nicht mehr besuchen zu können. 

Ein paar Ecken weiter holen Faisal und Jamila noch Paul ab. Er kommt aus der Ebersberger Partnerstadt Yssingeaux, ist 10 Jahre alt und lebt für einen Monat bei einer Gastfamilie im Eggerfeld. Seit mehr als zehn Jahren ist es üblich, dass die Schüler jedes Jahr für einen Monat in ein anderes europäisches Bundesland kommen. Paul war sehr aufgeregt, es ist sein erster Austausch und er ist das erste Mal alleine weg von zu Hause, aber in der letzten Woche hat er sich schon gut bei seiner Gastfamilie eingelebt. Da es in Yssingeaux ähnliche Probleme mit Biobots gibt, hat er sich freiwillig gemeldet, bei dem Projekt zu helfen, da er mehr über die veränderte Amaryllis lernen möchte. 

Als er einsteigt begrüßt er die beiden auf Französisch, aber Faisal und Jamila verstehen ihn mühelos, denn beide tragen ebenso wie Paul einen Mikrokopfhörer, der synchron übersetzen kann. “Wie der Babelfisch in “Per Anhalter durch die Galaxis”, nur noch besser”, denkt Faisal, während er zur Seite rutscht, um dem Jungen Platz zu machen. 

Dann fahren die drei weiter zum Hochsicherheitsbereich der Gärtnerei Kraus, um die Pflanzen abzuholen. 

Die Frontscheibe des Cityshuttletransporters ist ein holographischer Bildschirm. Faisal, Jamila und Paul stimmen sich mit den KI’s Ludwig und Lea ab. Die beiden haben die Daten bei Versuchen ausgewertet, um wertvolle Hinweise zur optimalen Pflanzung der Amaryllis zu erhalten. 

Als die drei - mit Ludwig und Lea die fünf - am Aussichtsturm ankommen, werden sie schon von Dana erwartet. Dana wird demnächst das erste Kind adoptieren und macht sich (nicht nur) deshalb zu einem lebenswerten Ebersberg Gedanken. Dana versucht, eine Lösung dafür zu finden, die Obstbäume am Waldrand zu bewässern, die mehr tot als lebendig sind, aber möglicherweise noch zu retten. 

Gerade wollen die vier dafür möglichst präzise Fragen an die KIs Ludwig und Lea formulieren, als es auf der anderen Seite des kahlen Feldes einen Tumult gibt. Die Waldmenschen, eine Gruppe von Menschen aus Ebersberg und den umliegenden Orten, welche sich vom städtischen Gemeinschaftsleben zurückgezogen und hier zu einer losen Gruppe zusammengeschlossen haben (warum??), kommen der kleinen Gruppe laut protestierend entgegen. Als sie näher kommen, verebbt das Stimmengewirr und ein Mann von mindestens 80 Jahren, ruft wütend: “Wie könnt ihr glauben, mit Gentechnik Dinge zu reparieren, welche mit Gentechnik entstanden sind! Den Teufel mit dem Belzebub austreiben! Krieg mit Krieg bekämpfen! Etwas anderes könnt Ihr nicht! Seht Ihr nicht, was uns Euer blinder Fortschrittsglaube schon alles eingebrockt hat? Wann hört Ihr endlich auf und gebt diesem Planeten eine Chance, sich zu regenerieren?” Faisal setzt gerade dazu an, zu erklären, dass diese Biobots nicht von selbst verschwinden werden, nicht in den nächsten Millionen Jahren. Dass Atommüll, um den sich die Menschen vor 50 Jahren noch gesorgt haben, ein Witz dagegen ist. Eigentlich will er auch sagen, wie schuldig er sich fühlt für das, was vor 20 Jahren passiert ist und dass er es wieder gutmachen möchte. Aber er kommt nicht weit. Schon bei seinen ersten Worten fangen die ersten Waldmenschen feindselig zu murmeln an, anderen stimmen ein, der Protest schwillt wieder an. Faisals Worte gehen in den Rufen und Schimpftiraden unter, die anhalten, bis eine junge Frau mit durchdringender Stimme ruft “Nur über unsere Leichen!” und die Waldmenschen zu Faisals Entsetzen beginnen sich in einem Sitzstreik auf dem verseuchten Gelände niederzulassen. “So seid Ihr Leichen früher als Ihr denkt”, schreit er mit sich überschlagender Stimme, “setzt Euch meinetwegen da hin, aber Ihr braucht Schutzkleidung!” Er rennt zum Transporter und reißt in fieberhafter Eile Sicherheitsausrüstungen heraus, die eigentlich für die Helfer beim Pflanzen gedacht waren. Dana springt geistesgegenwärtig dazu, schnappt sie sich und rennt zu den Waldmenschen. Diese trauen aber den Städtern nicht und fühlen sich bedroht. Es könnte eine Falle sein, denken sie. Es kommt zu einem Gerangel und dabei stürzt einer der Waldmenschen in eine Grube im Gelände. “Oh nein”, stöhnt Faisal, “das auch noch, in den Gruben sammeln sich bevorzugt die Biobots, da es dort dunkler ist. Sobald sie Bioenergie registrieren, beginnen sie aufgrund ihrer Fehlfunktion, die Energie aus allem Lebendigen um sie herum zu extrahieren.” inzwischen hat auch das Gerangel aufgehört, die Waldmenschen scharen sich um die Grube und wollen gerade helfen, ihren Freund herauszuziehen, als sie am Boden der Grube ein gelbgrünes Schimmern und ein kaum wahrnehmbares, bedrohliches Surren bemerken. “Er zittert”, ruft einer der Waldmenschen, der ihm gerade den Arm entgegenstrecken will, doch der Verunglückte sackt plötzlich in sich zusammen. Ein Raunen geht durch die Menge, als das Summen immer lauter wird. “Lasst mich durch!” Faisal drängt sich durch die Menge und diesmal weichen die Menschen wortlos zurück. Er wirft eine Amaryllis in die Grube. Dann ist es plötzlich still und dunkel in der Grube. Überrascht beobachten die Waldbewohner, wie ihr Freund langsam wieder zu Bewusstsein kommt, die Farbe kehrt in sein Gesicht zurück, er richtet sich auf, streckt sich und kann nun sogar selbständig und offensichtlich unversehrt herausklettern.  

Die Atmosphäre, die eben noch feindselig war, hat sich nun völlig gewandelt. Wald- und Stadtmenschen fallen sich vor Erleichterung in die Arme, die zuvor skeptischen Waldbewohner sind nun von der positiven Wirkung der Amaryllis überzeugt. Sie erkennen die gute Absicht und erklären sich bereit, mit anzupacken. 

Als bereits die Abenddämmerung beginnt, sich über die Ludwigshöhe zu senken und die letzten Pflanzen in die Erde gesetzt werden, stößt Paul auf einen harten Gegenstand. Als er vorsichtig weitergräbt, stößt er auf eine Flasche mit Schraubverschluss. Alle staunen über den Fund und dass jemand so wertvolle Rohstoffe einfach wegwirft, ist Glas inzwischen doch sehr selten geworden.  

Faisal kommt hinzu und erkennt worum es sich handelt: Er selbst hat diese Flasche als Achtjähriger vergraben! Er klärt die anderen auf, dass es sich dabei um eine Milchflasche handelt. Im Jahr 2021 war Milchviehhaltung noch weit verbreitet, erzählt er zum Erstaunen der Gruppe. 

Vorsichtig schraubt Faisal den Deckel ab. Der Inhalt scheint unversehrt! Ein Lächeln huscht über Faisals Gesicht, als er seine Schätze aus der Flasche holt. Ein Bild zeigt den Blick von genau diesem Ort auf die noch kleine Kreisstadt, auf blühende Wiesen und die naheliegenden Berge. Vor allem die Jüngeren staunen, Jamila seufzt leise. 

Als nächstes kommt eine kleine Ninja-Lego-Figur zum Vorschein und Faisal erinnert sich, wie er am Schulhof Legosammelkarten mit seinen Klassenkameraden getauscht hat. Allerdings war es auch eine ziemlich einsame Zeit, damals. 2019 war in China ein neuartiges Coronavirus aufgetaucht, erklärt er für alle, die zu jung sind, um sich selbst zu erinnern. Es hat sich in den ersten Monaten des Jahres 2020 über die ganze Welt verbreitet. Heute ist die jährliche Coronavirusschutzimpfung Standard, sie wird zusammen mit der Grippeimpfung verabreicht, aber damals gab es keine Impfung und auch die Behandlung Erkrankter war vor allem anfangs eher ein Glücksspiel, da man keinerlei Erfahrung hatte. Es gelang Wissenschaftlern zwar, im Lauf des Jahres 2020 verschiedene Impfungen zu entwickeln, aber erst dauerte es eine Weile, bis es genug Impfstoff gab, und dann wollten sich einige nicht impfen lassen, aus Angst vor bisher nicht erforschten Langzeitfolgen. Auch unterschätzten viele das Risiko einer Covid19-Erkrankung. Kinder unter 12 Jahren durften 2021 sowieso bis auf wenige Ausnahmen noch nicht geimpft werden, und so gab es immer wieder Kontaktbeschränkungen. “Hier”, Faisal zieht ein geschnitztes Messer aus der Flasche, das ein wenig einem Brieföffner ähnelt, “das habe ich damals 2020 im ersten großen Lockdown geschnitzt und dann ein Jahr später in diese Flasche gesteckt, bevor ich sie als Zeitkapsel hier vergraben habe.” 

Während Faisal von der Coronapandemie berichtet, entsteht unter den Älteren der Waldmenschen ein Gemurmel. Viele von ihnen waren damals mit der Impf- und Pandemiemanagementpolitik ebenso wenig einverstanden, wie mit dem Einsatz der Biobots 20 Jahre später. Aber sie wollen den gerade entstandenen Frieden nicht gefährden und wenden sich wieder Faisal zu, der gerade einen Zettel aus der Flasche zieht, ihn aufrollt und vorzulesen beginnt, was in kindlicher Schrift auf dem Zettel notiert ist: 

“Lieber Unbekannter, liebe Unbekannte, 

ich bin Faisal und ich komme aus dem Jahr 2021. Wie es um mich aussieht, hast du vielleicht schon auf dem Bild gesehen, das auch in der Flasche ist, die du gefunden haben wirst, wenn du diesen Brief liest: wunderschöne Natur, Berge, Bäume, Blumen, Insekten, Vögel und andere Tiere… Aber das alles ist bedroht. Ich mache mir große Sorgen, weil die Erwachsenen - oder viel zu viele von ihnen - gleichgültig sind, einfach so weitermachen mit ihrer Ausbeutung der Erde und Zerstörung der Umwelt, aus Bequemlichkeit oder Profitgier, und diese Erde bald nicht mehr wiederzuerkennen sein wird, wenn sich nicht ganz schnell etwas ändert. Ich habe Angst, dass ich und meine Kinder und Enkel werden hungern müssen, weil nichts mehr wächst, vielleicht kein sauberes Trinkwasser mehr zur Verfügung steht oder so wenig, dass darum gekämpft wird, dass es mehr und mehr Unwetter und Naturkatastrophen gibt, die uns in ernsthafte Gefahr bringen und unsere Lebensgrundlage zerstören. 

Liebe Menschen der Zukunft, wie gerne würde ich mit euch sprechen können und euch fragen: Haben die Erwachsenen endlich erkannt, dass sie mit ihrem zerstörerischen und ausbeuterischen Verhalten aufhören müssen? Konnte die Klimaerwärmung gestoppt werden? Ist der Verkehr endlich weniger geworden und ist überall auf Elektroantriebe umgestellt worden? Ist die Energiewende gelungen, wird Strom nur noch aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen? Wird Müll vermieden oder sind die Müllberge ins Unermessliche gewachsen? Gibt es hoffentlich kein Wegwerfplastik mehr, das in den Meeren landet und Tiere und Menschen gefährdet? Haben die Menschen, große wie kleine, endlich begriffen, dass das Motto “schneller, höher, weiter, mehr, mehr, mehr” ins Verderben führt? 

Falls du, lieber Faisal der Zukunft, es bist, der du diese Flasche nach vielen Jahrzehnten als alter Mann wieder ausgräbst, erkennst du deinen Lieblingsplatz wieder? Ist er hoffentlich nicht zerstört? Haben die Menschen rechtzeitig ganz neue Wege eingeschlagen…?” 

Als Faisal fertig gelesen hat, bleibt es lange Zeit still auf der Lichtung mit den neu gepflanzten Amaryllis, die im Zwielicht der hereinbrechenden Nacht nur noch schemenhaft wahrgenommen werden können. Die Gedanken der Menschen wandern in unterschiedliche Richtungen und doch steht hinter allen Gedanken ein und derselbe Wunsch...